Zwischen den Tönen Hoffnung

NEOKLASSIK Unfallbedingtes Experiment am Klavier mit dem Daumen im Gips. Sein neues Album „Screws“ hat Nils Frahm mit nur neun Fingern eingespielt

Das Hochbett war sicherlich eine praktische Erfindung und dürfte angesichts steigender Mieten demnächst auch in Berlin wieder des Öfteren errichtet werden. Als Quell künstlerischer Inspiration allerdings ist die erhöhte Schlafgelegenheit bislang noch nicht allzu häufig auffällig geworden. Nun aber schickt sich das Hochbett von Nils Frahm an, in die Musikgeschichte einzugehen. Übernimmt es doch die Hauptverantwortung für das Zustandekommen von „Screws“, dem neuen Album des Berliner Pianisten.

Der 30-jährige Frahm ist Teil einer, wie der Londoner Guardian vor einigen Monaten feststellte, „blühenden neoklassischen Szene“ in Berlin. In seinem Durton Studio arbeitet er mit Kollegen wie Peter Broderick, F. S. Blumm, Anne Müller oder Efterklang. Auch in seiner eigenen Musik erforscht Frahm die Schnittmengen zwischen Elektronik und Klassik, Avantgarde und Ambient. Aber man hört dann doch immer wieder deutlich, dass er geprägt ist von der klassischen Ausbildung, die er von frühester Kindheit an am Klavier absolviert hat.

Diese Existenz als Pianist stand auf der Kippe, als Frahm in diesem Sommer vom Hochbett stürzte, sich den linken Daumen brach und in der Notaufnahme landete. Der behandelnde Arzt legte einen Gips an und schickte den Patienten mit der Maßgabe nach Hause, das Klavier auf keinen Fall anzurühren. Konzerte mussten abgesagt werden, Aufnahmesessions fielen aus. Ein Musiker musste lernen, ohne Musik zu leben. „Ein paar Tage lang habe ich gedacht, alles könnte vorbei sein“, schreibt Frahm in den Anmerkungen zu seinem neuen Album, das er „Screws“ genannt hat – im Andenken an die Schrauben, die ihm im Krankenhaus damals zur Stabilisierung eingesetzt worden waren.

Denn weder Schrauben noch ärztliche Empfehlung konnten Frahm schlussendlich davon abhalten, sich nach einigen Tagen doch ans Klavier zu setzen. Weil ihm langweilig geworden war, so Frahm, begann er wieder zu spielen, wenn auch notgedrungen nur mit neun Fingern. Bis der Gips entfernt wurde, hatte Frahm genau neun, wie er sie nennt, „kleine Lieder“ aufgenommen, die er kostenlos zum Download bereitstellte. Nun erscheinen sie als „Screws“ auch auf CD: Neun Klavierstücke für neun Finger.

Zu hören ist die Einschränkung nicht. Allerdings offenbaren die Stücke einen Nils Frahm, den man bislang noch nicht so zu hören bekommen hat. Zwar waren seine früheren Aufnahmen auch nicht eben Wutausbrüche, aber in aller Ruhe wurde das Klavier mit ungewohnten Klängen, fremden Instrumenten oder Naturgeräuschen konfrontiert, um so Spannung zu schaffen. Nun steht das Klavier wirklich vollkommen allein und der Romantiker bricht sich Bahn, das reine Gefühl, das auch vor dem Kitsch nicht zurückschreckt.

So intim ist „Screws“, dass man ganz deutlich hören kann, wie da jemanden die Ängste ankriechen, wie er zweifelt und sich sorgt, wie er dann ans Klavier geht, um diese Emotionen so lange seinem liebsten Gesprächspartner anzuvertrauen, bis zwischen den Tönen dann doch ein wenig Hoffnung aufleuchtet. Ob sich auch das Hochbett gerührt oder nur schuldbewusst zeigte, das ist allerdings nicht dokumentiert. THOMAS WINKLER

■ Nils Frahm: „Screws“ (Erased Tapes/Indigo). Als Download unter screws.durtonstudio.com