Wie es sein könnte

UmgangBlicke, Barrieren, voreilige Schlüsse: Worauf Menschen mit Behinderungen gern verzichten würden. Und was sie sich wünschen

Laura Gehlhaar, Autorin in dieser Ausgabe, mit ihrem Freund Foto: Andi Weiland

Das Gefühl, Mama zu sein

Menschen mit Behinderung haben Familien. Sie leben nicht isoliert, sie sind Teil der Gesellschaft. Jeder Mensch mit Behinderung hat einen Vater und eine Mutter. Und einige Menschen mit Behinderung sind selbst Vater oder Mutter geworden. Leider ist das noch keine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung, behinderte Menschen seien mit der Versorgung und Erziehung eines Kindes überfordert, ist weiterhin verbreitet.

Es gibt Ärzte, die einer schwangeren Frau mit neurologischer Erkrankung und Rollstuhl ins Gesicht sagen, dass auch ein Spätabbruch jederzeit möglich sei. Wie wolle sie denn ihr Kind versorgen?

Kliniken, die nicht wissen, wie man mit einer schwangeren Frau im Rollstuhl umgehen soll. Krankenhauszimmer und Frühchenintensivstationen, die keinen Platz für eine Mama im Rollstuhl haben. Diese Probleme werden vorgeschoben, damit nicht nach Lösungen gesucht werden muss. Gleichzeitig werden von einigen Jugendämtern Ängste geschürt: Frauen wird gesagt, dass sie ihr Kind nach der Geburt nicht mit nach Hause bekommen, wenn sie es nicht allein wickeln können. Die wenigsten Frauen im Rollstuhl werden aus dem Nichts schwanger. Beinahe alle werdenden Eltern machen sich Gedanken, Menschen mit Behinderung meist noch mehr.

Was bei uns im Alltag anders ist als bei anderen Familien? Wir sind besser organisiert. Aber die Grundvoraussetzungen müssen stimmen; so kommt zum Beispiel nur ein barrierefreier Kindergarten infrage. Einzelheiten unterscheiden uns, aber diese fallen nur bei genauem Hinsehen auf. Trotzdem kämpfen wir gegen viele Vorurteile. Andere Mütter, die sich einmischen, wenn ich mit meinem Sohn auf dem Spielplatz bin und er sich versteckt. „Deine Mama muss wohl besser auf dich aufpassen, oder sie kann nicht mehr allein mit dir weg.“

Natürlich gibt es auch positive Resonanz. Wenn ich mit Kinderwagen und Rollstuhl durch die Straßen fahre: „Wie schön, dass es so etwas gibt. Sie machen das toll.“ Dabei mache ich nichts anders als jede andere Mama.

Die Liebe zu einem eigenen Kind kann vieles ausgleichen. Sie hilft, nicht aufzugeben, sondern weiter für sich und seine Familie einzustehen. Egal, wie viele Kämpfe und Auseinandersetzungen wir haben, das Gefühl Mama zu sein, ist das Schönste überhaupt. Und wenn dein Kind dich anlächelt, hüpft das Herz.

Wheelymum. Der Blog von und mit einer Mama mit Behinderung und chronischer Krankheit und ihrem Familienleben: wheelymum.com

Unsichtbarer Schmerz

Eilig laufe ich mit meinem großen Reisekoffer über das Gleis. Noch zwei Minuten, und die Türen des ICE schließen sich. Das erste Problem, mit dem ich es hier zu tun habe, ist, dass ich immer heimlich renne. Genauer gesagt: Nur ich weiß, dass ich es eilig habe. Denn seit meine Wirbelsäule durch vier Titanschrauben und zwei ebensolche Stäbe ergänzt wurde, funktioniert das mit dem Rennen nicht mehr so. Wenn ich mich beeile, all meine Kraft zusammennehme, um beispielsweise einen Zug zu erwischen, ist das höchstens an meinem gequälten Gesichtsausdruck zu erkennen.

Aber auf Bahnhöfen gucken irgendwie alle gequält. In diesem Fall hatte ich Glück. Meine Beine trugen mich, die Rollen trugen den Koffer, und so standen wir dann vor der Zugtür, die zwei Stufen dahinter ein unüberwindbares Hindernis. „Entschuldigung“, sprach ich einen Herrn an, der gerade einstieg. „Wären Sie so freundlich, meinen Koffer hineinzuheben?“ Oft sage ich, dass ich rückengeschädigt bin, denn sieben Jahre nach meinen Operationen glaube ich noch immer, mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich – jung, weiblich und auf den ersten Blick kerngesund – nicht in der Lage bin, wesentlich mehr als einen Sixpack Bier zu heben. Ich kam nicht dazu, der Mann drehte sich um und entgegnete: „Nee, nee, junge Frau, wenn Se Ihren Koffer nich tragen können, dürfen Se nich so viel mitnehmen.“

Solche Situationen erlebe ich oft. Es werden Maßstäbe an mich angelegt, denen ich nicht entspreche. Seit sieben Jahren leide ich unter chronischen Rückenschmerzen, ich weiß nicht mehr, wie es sich anfühlt, keine zu haben. Wenn ich in vollen Bussen lange stehen muss, wünsche ich mir manchmal, ich sei alt und hutzelig. Da würde man mir dann einen Platz anbieten. Stattdessen muss ich mich offenbaren, immer mit der Angst, nicht ernst genommen zu werden. „Nen Bandscheibenvorfall? Das kannste deiner Oma erzählen“, empörte sich vor vielen Jahren eine Frau, als ich vorsichtig fragte, ob ich mich setzen dürfe. Damals war ich 13. Mit 13 hat man einfach keinen Bandscheibenvorfall.

Voreilige Schlüsse ziehen wir alle, keine Frage. Doch erst wenn wir genauer hinsehen, ja, wörtlich versuchen, Einsicht in unser Gegenüber zu gewinnen – erst dann leben wir in Gemeinschaft miteinander. Oder anders formuliert: Wer Vor-urteile hat, sollte dringend nochmal nach-denken.

Julia Frick, Jahrgang 1990, ist Kulturanthropologin und Autorin

Bitte nicht anfassen!

Am Bahnsteig. Ich steuere nicht sofort auf die U-Bahn-Tür zu, sondern erlausche, ob rechts oder links der nächste Eingang ist. Diese Geduld hat ein Mitbürger nicht. Er greift grob nach meinem Arm, zerrt mich nach rechts. Ich erschrecke mich, zieh den Arm weg.

Ich gehe zügig auf eine Treppe zu. Der weiße Stock pendelt vor mir. Ich gehe diesen Weg täglich. Dennoch fasst mir ein Senior beherzt an die Schulter. Er hat wohl Angst, ich könnte hinunterstürzen. Dabei macht sein Eingreifen die Situation erst gefährlich. Ich bin im Fluss, im Gleichgewicht. Werde ich ohne Vorwarnung herausgerissen, steigt die Gefahr zu stolpern.Sehen diese vermeintlichen Helferinnen und Helfer denn ständig blinde Menschen Treppen runterpurzeln, auf stark befahrenen Hauptstraßen herumirren oder unter U-Bahn-Wagen geraten? Sagt ihnen ihre Intuition nicht, dass man niemanden ungefragt berührt? Dabei ist es freundlich, wenn mir Hilfe angeboten wird. Wenn ich sie benötige, ist die Berührung okay. Aber allen, die an blinden Menschen herumzerren, zupfen, sie tätscheln, ihnen eine körperliche Nähe aufdrängen, die sie nicht wollen, rufe ich zu: „Fasst uns nicht an!“

Heiko Kunert, Jahrgang 1976, ist Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenvereins in Hamburg

Der richtige Ton

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wohl sein mag, sich selbst die Socken anziehen zu können. Oder sich spontan am Kopf zu kratzen. Man hebt ohne nachzudenken den Arm und kratzt sich, zack, fertig! Zwei Sekunden, maximal.

1994 sind meine Eltern aus der Provinz als Russlanddeutsche nach Hamburg gezogen und dann ging alles recht schnell: „Das Mädchen wird niemals laufen können, sie wird für immer auf fremde Hilfe angewiesen sein, hoffentlich erlebt sie ihren elften Geburtstag.“ Seit meinem siebten Lebensjahr ist die progressive Muskelerkrankung offiziell diagnostiziert: Körperlich werde ich immer auf Hilfe der Anderen angewiesen sein.

Jetzt bin ich neunundzwanzig und lebe selbstbestimmter denn je.

„Du kannst doch nicht mal deine Pizza allein schneiden“, sagten mir Menschen. „Vielleicht wäre eine WG für Behinderte was für dich?“

Seit dem Einzug in meine erste eigene Wohnung sind nun neun Jahre vergangen. Ich erinnere mich gut an das Gefühl, als ich dort die erste Nacht – in Anwesenheit einer mir noch unbekannten Assistentin – verbracht habe. Mit welchem Genuss ich den ersten Lebensmitteleinkauf getätigt habe, um anschließend die fast verbrannte Tiefkühlpizza zu essen. Heute arbeiten, um meinen Alltag zu sichern, sieben Assistentinnen in 24-Stunden-Schichten-Diensten für mich. Ich mache den Einsatzplan und die Abrechnung am Monatsende selbst, wenn es zwischenmenschliche Schwierigkeiten gibt, vermittelt keine Personalentwicklung zwischen uns.

Die Herausforderung besteht darin, wie bei jedem Topmanager auch, den richtigen Ton zu treffen, um die Mitarbeiter zu motivieren. Vierzig Assistentinnen waren bislang hier angestellt. Die meisten bleiben zwei bis fünf Jahre, so lange, bis sie einen „echten Job“ finden.

Es erfordert Flexibilität, sich auf die einzelnen Persönlichkeiten einzustellen. Immer und immer wieder, denn jeder braucht andere Kommunikationsarten. Am meisten lerne ich dabei über mich.

Sonntagnachmittag: Im Fernsehen läuft eine Reportage über die Gesetzesentwürfe zum neuen Bundesteilhabegesetz. Ich schaue fassungslos auf die Mattscheibe und kann nicht glauben, dass manche nicht verstanden haben, was für eine Freiheit die persönliche Assistenz allen Menschen mit einer körperlichen Einschränkung ist. Ich bitte meine Assistentin, mir ein Glas Wasser zu bringen und bin froh, dass ich die Möglichkeit noch habe.

Anastasia Umrik, Jahrgang 1987, ist Unternehmerin und bloggt auf anastasia-umrik.de