Der 666er fährt zickzack durch Mariendorf, dort holt er sich die Alten, die zugleich seine neuen Passagiere sind: Dereinst werden wir alle aus dem Bus des Lebens steigen
LIEBLING DER MASSEN
von Uli Hannemann
Der 171er kommt. Aber so richtig kommt er wohl doch nicht, denn vorne drauf steht: „Fahrt endet hier.“ Ich weiß gar nicht, warum diese Worte mich so entsetzlich traurig machen. Man könnte ja auch denken: okay, Fahrt endet hier, dann beginnt in zehn Minuten eben eine neue. Was für positivistische Kackscheiße naive junge Menschen eben so denken würden. Doch meine Lebenserfahrung verbietet mir solch flatterhaften Selbstbetrug. Dort steht nun mal: Fahrt endet hier. Sonst nichts.
Die Fahrt endet hier, der Spaß ist vorbei, the party is over, wie der Finne sagt, wenn ab 120 Grad in der Sauna das Eiweiß im Hirn gerinnt und aus dem Arschloch es zum letzten Male wie ein Wasserkessel pfeift. Das Spiel ist aus, es ist Kehraus, es fällt das Laub, das Haar, der Zahn, der erste Schnee, es endet auch die Fahrt. Endgültig.
Hier endet nun die Fahrt von Tier und Pflanze, Mensch und Hoffnung. Sie alle steigen aus dem Bus des Lebens, zerstreuen sich und ihre Asche schnell in alle Winde. Fahrt endet hier. Wie auch das Wetter endet, Tag und Nacht sind nahezu gleich dunkel, bei sieben Grad und Nieselregen. Auf dem Dynamischen Auskunfts- und Informationssystem Daisy steht nun: Nächste Abfahrt null Uhr Armageddon, das ist immerhin schon bald – so wird das Ziel, die Hölle, noch mühelos erreicht.
O, du meine Frau: Endet hier auch unsere Fahrt? Die wir so lang gemeinsam über Stock und Stein, durch Jauchegrube, Minenfeld, zum Glück auch oft über Blumenwiesen schritten. Trennen sich denn nun auch unsere Wege? Sieht doch auf den ersten Blick noch alles so harmonisch aus. Nichts ist in einer Beziehung wichtiger als Kommunikation. Schon lange haben wir nicht mehr so viel gesprochen. Doch belauschte uns ein Außenstehender, so spürte er mit viel Geschick die Feinheiten heraus, die zeigen, dass immer noch entscheidend ist, was denn da genau gesagt wird. Und das sind nun mal Sätze wie: „Ich glaube, es hat keinen Zweck mehr“, „Es war eine schöne Zeit – nun ist sie vorbei“, „Herbst bedeutet Abschied“, „Du bist so kalt“, „Lass uns Freunde bleiben“, „Behalt du den aufblasbaren Bade-Donut, ich nehm dafür die neue Kühltasche“, sowie „Fahrt endet hier.“
Der 171er rast, nach allem Anschein leer, weiter über die Kreuzung am Hermannplatz, an Bord nur Schatten, auch den Fahrer sieht man nicht. Wie Buchstaben aus Feuer brennt hell am Bug die unheimliche Botschaft: Fahrt endet hier. Doch sie endet nur für die Lebenden, die sich beim Anblick des Totenbusses stumm bekreuzigen und nach Hause eilen.
Der 171er hält nur für Tote. Versucht ein Lebender zuzusteigen, so geht direkt vor seiner Nase – pffffhhh!! – die Bustür zu, der unsichtbare Fahrer brüllt, „kanna nich lesen, Meesta/Piepel/Frollein/junge Frau: Ick hab jetzt Pause, für immer – die Fahrt endet hier!“, und bespritzt den Unglücklichen beim Losfahren mit einem Schwall von schwarzem Blut aus einer tiefen Pfütze. Das Grauen greift mit klammer Kralle den Tropfnassen am Genick. Schauerlich lacht der Busfahrer, heiser wie ein sterbender Wolf, derweil der Fahrgast kreidebleich zum Taxistand sich schleicht. Bei diesen weiß man wenigstens seit jeher, dass es sich um Untote handelt.
Während für unsereiner die Fahrt endet, fängt sie für die Toten nun erst richtig an. Die Liniennummer auf der Feuertafel schaltet um: wo eben noch 171 stand, steht nun 666. Ein Ticket hat hier keiner – die Sterbeurkunde genügt als Nachweis völlig. Der 666er fährt zickzack durch Mariendorf, dort holt er sich die Alten, die zugleich seine neuen Passagiere sind. An jedem Friedhof steigen viele ein und aus. Man sieht sie nicht, man riecht nur Moder, spürt nur einen kalten Zug und erschauert bis ins Mark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen