: Christen unter sich
Oper David Alden hat für die Deutsche Oper Berlin Giacomo Meyerbeers Historiendrama „Die Hugenotten“ neu inszeniert. Der Dirigent Michele Mariotti lässt die französische Leichtigkeit und Eleganz des Riesenwerks erklingen
von Niklaus Hablützel
Er ist wieder da, Giacomo Meyerbeer, der es in Wagners Deutschland immer ein wenig schwer hat. Die Deutsche Oper will alle seine abschreckend riesigen Meisterwerke neu produzieren und hat letztes Jahr mit „Vasco da Gama“ begonnen, bisher besser bekannt unter dem irreführenden Namen der postumen Überarbeitung „Die Afrikanerin“.
Vera Nemirova hatte für das ungekürzte Original einen weit ausschweifenden, rauschhaften Bilderreigen entwickelt, der die Form der „Grande Opéra“ in die Sprache eines psychedelischen Films übersetzt. David Alden geht einen anderen Weg. Er nimmt die vollen vier Stunden reiner Spieldauer der „Hugenotten“ von 1836 zum Anlass, den Spielraum der handelnden Personen immer weiter einzuengen und den Blick zu konzentrieren auf das Verhängnis der Religion, an die zu glauben sie vorgeben.
Natürlich ist das innerchristliche Gemetzel der Bartolomäusnacht angesichts der weltweiten, religiös verbrämten Kriege von heute furchterregend aktuell. Aber so einfach macht es sich Alden nicht. Es gibt bei ihm keine Dschihadisten, weil es 1572 auch keine gab. Auf noch eine Theaterpredigt gegen den religiösen Fanatismus müssen wir an diesem Abend verzichten.
Lediglich eine paar brennende Kreuze und Kapuzenmasken des Ku-Klux-Klan schlagen eine optische Brücke zur Gegenwart. Sie bleibt Episode. Die Kostüme von Constance Hoffman lokalisieren die Figuren in der Entstehungszeit des Werks, denn darum geht es in Aldens Regie. Sie entschlüsselt das Werk in seinem historischen Kontext, um seine ästhetische Konzeption in die Gegenwart zu überführen, die dort weit mehr Sprengkraft entwickelt, als es die bloß inhaltliche Vergleichbarkeit von Ereignissen und Mentalitäten könnte.
Eugène Scribe, der Theaterprofi, und Émile Deschamps, der Romantiker und Goethe-Übersetzer, schrieben den Text, dem es gelingt, die maximale Fallhöhe einer Tragödie auf den verschlungenen Wegen einer Verwechslungskomödie zu erreichen. Ein Liebespaar muss sich zwischen den Glaubensfronten finden, ständig muss sich jemand verstecken, durchs Schlüsselloch blicken und Intrigen belauschen. Diese enden im Blutrausch der Bartolomäusnacht.
Schon bald nach dem triumphalen Erfolg der Uraufführung hat man dem Werk immer und immer wieder eine viel zu gefällige Oberflächlichkeit vorgeworfen, die weder dem Schrecken der historischen Tatsachen noch der tragischen Leidenschaft des Zentralpaars gerecht werde.
Distanz und Kritik
David Alden gelingt es, dieses Missverständnis aufzulösen. Seine „Hugenotten“ sind Pop avant la lettre. Es geht nicht um Einfühlung und Mitleid, es geht um Distanz und Kritik, die nur zu haben sind, wenn man sich nicht in die Tiefe von Gefühlen versenkt, sondern in den Glanz der großen kommerziellen Show. Wir verstehen das heute besser als das Publikum in der Zeit der Romantik, und der Alleskönner Meyerbeer wusste sehr genau, wie er sein Publikum fesseln konnte mit einer schier endlosen Nummernrevue von Tänzen, Liedern, Stimmakrobatik und Riesenchören. Man möchte ständig Jubeln vor Begeisterung, zumal sich auch Michele Mariotti und das Orchester hinreißen lassen von Meyerbeers Genie der Unterhaltung.
Sie spielen wunderbar leicht und elegant. So stört es überhaupt nicht, dass die Handlung oft auf der Stelle tritt. Alden versucht nicht, Meyerbeer mit Tempo und Spektakel womöglich noch zu übertrumpfen. Er lässt sich Zeit, denn auch Meyerbeer ließ sich Zeit. Lustig sind die Hugenotten nämlich nicht. Sie formulieren einen sehr ernsten, sogar leidenschaftlichen Protest gegen den gewaltsamen Irrsinn religiöser Sekten, wenn nicht sogar der Religion überhaupt. Nur liegt das Grauen nicht unter der Oberfläche, die Oberfläche selbst ist grausam. Alden hat das sehr gut verstanden. Das macht seine Regie zu einem wirklich großen Wurf.
Er nimmt sich selbst zurück. Sein Bühnenbildner Giles Cadle hat ihm die Holzkonstruktion eines Dachstuhls gebaut. Sie hängt vier Akte lang an der Decke. Zu Beginn, während das Orchester die letzten Takte von Meyerbeers Variationen über den Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ spielt, wird die große Glocke in das Holzgerüst hochgezogen, die am Ende die Bartolomäusnacht einläuten wird. Das ist der Rahmen, einfach, klar und immer gegenwärtig.
Das Leben könnte gut sein
Darunter nimmt es Alden kammerspielartig genau mit der Zeichnung von Individuen. Eine Runde gut gelaunter Herren schwatzt beim Festmahl über Frauen und Politik, eine romantische Königin besingt die Natur und lässt sich von ihren Hofdamen verwöhnen. Dann sitzt das Volk sonntags in der Kirche und erfreut sich am freien Tag. Das Leben könnte gut sein, doch jede dieser sorgfältig und detailverliebt inszenierten Episoden zerbricht, weil jemand unbedingt seinen Glauben verkünden muss. Alles wird unsinnig und verrückt bis zur Lächerlichkeit, die mit den Mitteln der Komödie auf die Spitze getrieben wird.
Die so sorgsam gezeichneten Individuen verlieren dabei ihre Konturen. Sie verschwinden in Haufen von Körpern, aus denen blutverschmierte Arme empor zucken. Überlebensgroße Herrschaftspferde werden hereingeschoben, mit absurden Ritualen weihen gläubige Verschwörer ihre Schwerter, dann senkt sich der hölzerne Dachstuhl herab. Alle sind darin gefangen, Gewehrsalven knattern.
Die Frage nach Motiven und Zielen handelnder Personen stellt sich gar nicht. Es gibt keine mehr. Es ist Religion. Das ist radikaler als alles, was man sich als politisches Gegenwartstheater vorstellen mag. Radikaler deswegen, weil man darüber nur lachen kann. Nicht fröhlich zwar, aber eben doch lachen, und man kann es, weil durchweg großartig gesungen wird.
In den Hauptrollen sind Stars wie Juan Diego Flórez oder Olesya Golovneva zu bewundern. Für die Qualität dieser Produktion insgesamt spricht jedoch, dass auch die Nebenrollen überragend besetzt sind. Die junge Amerikanerin Irene Roberts wertet die Hosenrolle eines Pagen mit ihrer nahezu schwerelos glänzenden Stimme auf zur Hauptattraktion am Hofe, wo Patrizia Ciofi mit den Koloraturorgien einer beschwipsten Königin im Bade manchmal doch arg zu kämpfen hat.
Dafür übertrifft Ante Jerkunica, der seit Jahren zum festen Ensemble der Deutschen Oper gehört, sich selbst so sehr, dass man ihn kaum wiedererkennt – nicht nur, weil er sich die Haare geschnitten hat. Er war noch nie schlecht, aber jetzt ist er einfach unglaublich. Sein Bass bleibt selbst in den absurden Tiefen, die ihm Meyerbeer zumutet, kräftig und so klangvoll wie in den Höhen, die er ebenfalls mühelos erreicht. Er spielt einen treuherzigen, aber dumm-gläubigen und mordlustigen Hugenotten so überzeugend, dass man am Ende mit dieser eigentlich besonders abstoßend grotesken Figur sogar ein wenig Mitleid empfindet.
Nächste Vorstellungen: am 20., 23. und 29. 11. 2016
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