„China braucht eine starke Opposition“

Die Entwicklung Chinas geht „rückwärts, nicht vorwärts“, warnt Wang Dan, Führer der Studentenrevolte von 1989

BERLIN taz ■ „In fünf bis zehn Jahren wird es in China soziale Unruhen geben, wie dies bereits in Taiwan und Südkorea in einer ähnlichen Entwicklungsphase der Fall war“, sagt der heute 36-jährige Dissident Wang Dan voraus. Er war 1989 als 20-Jähriger eine zentrale Figur der Studentenproteste auf Pekings Tiananmen-Platz und besuchte gestern erstmals Berlin.

„Ohne starke Oppositionspartei wird es in China keine friedliche Transformation geben“, fürchtet Wang. Chinas politisches System drohe dann auseinander zu brechen und könnte in einer Militärdiktatur enden. „Ohne Zusammenarbeit mit Teilen der Kommunistischen Partei ist aber auch keine erfolgreiche Transformation möglich“, sagt Wang. Es sei 1989 ein Fehler der Studenten gewesen, dass sie nicht die Zusammenarbeit mit fortschrittlichen Kräften in der KP gesucht hätten.

Als 20-jähriger Student der Geschichte an der Peking-Universität (Beida) beteiligte sich Wang 1989 am Hungerstreik der Studenten und gehörte auch der von der KP-Führung empfangenen Delegation an. Ein in vielen Zeitungen abgedrucktes Foto von ihm mit einem Megafon in der Hand machte ihn weltberühmt. Nach der blutigen Niederschlagung des Protests tauchte er unter. Einen Monat später wurde er gefasst und zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung wurde er wieder aktiv und erneut verurteilt, diesmal zu elf Jahren Gefängnis. Im April 1998 durfte er im Vorfeld eines China-Besuchs des US-Präsident in die USA ausreisen. Zur Zeit promoviert Wang an der Harvard-Universität.

Gestern diskutierte er mit China-Experten in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Zur Frage, wie denn angesichts des strikt durchgesetzten Machtmonopols der Kommunistischen Partei in China eine Oppositionspartei aufgebaut werden könne, sagte Wang jedoch nichts. Vielmehr forderte er westliche Regierungen auf, in China nicht nur den Kontakt zur Regierung zu suchen. Denn die treibenden Kräfte einer Oppositionspartei seien unabhängige Intellektuelle, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, Rechtsanwälte und Angehörige der Mittelschicht. Eine solche Oppositionspartei könnte dann der Motor für die Stärkung der Zivilgesellschaft. Auf die Frage, ob nicht vielmehr umgekehrt aus der Zivilgesellschaft eine Partei einstehen würde, sagte Wang, dafür sei die Zeit zu kurz.

Er forderte dazu auf, beim Blick auf China nicht nur auf die Wirtschaft zu schauen, sondern auch auf die Politik und soziale Entwicklung. Er sprach sich zwar für die Fortsetzung der Wirtschaftsreformen, Chinas WTO-Beitritt und die Olympischen Spiele in Peking aus, doch funktioniere seiner Meinung nach die Formel „Wandel durch Handel“ nicht. „1989 habe ich an der Universität einen demokratischen Salon organisiert. Ich wurde verwarnt, aber nie verhaftet. Heute würde ich sofort verhaftet. Das zeigt, dass es rückwärts und nicht vorwärts geht.“

Sein Berliner Publikum, das Wang Unkenntnis über die europäische China-Politik jenseits des EU-Waffenembargos vorwarf, widersprach ihm mehrfach. Seine Forderung an westliche Regierungen, China unter Druck zu setzen, bezeichnete ein Diskutant als Aufforderung zu „kulturellem Imperialismus“.

SVEN HANSEN