Berliner Szenen: Schmerzhafte Türen
Schuldig und krank
Wir gehen „einmal ums Karree“, und ich freue mich über das schöne Wort aus meiner Kindheit. Ein Mann spricht mich von hinten an, ich solle beim nächsten Mal die Glastür zum Durchgang zumachen, wenn ich den Kindergarten verlasse. Ich neige dazu, mich schuldig zu fühlen, wenn mich jemand beschuldigt. Ich war aber gar nicht im Kindergarten, er hat mich verwechselt, vielleicht weil ich meinen Sohn dabeihabe und sein Laufrad trage. (Meistens muss ich es tragen, weil er immer gleich die Lust verliert.)
Wir gehen zum Friseur, ich will einen Termin machen, auch wenn ich das Geld lieber sparen würde, aber mit kurzen Haaren spare ich vielleicht Shampoo. Wir kommen am Kinderfriseur vorbei, der teurer ist als mein Friseur, aber dafür gibt es dort Spielzeug und eine Kreidetafel. In meiner rechten Schulter ist ein Nerv entzündet, es tut höllisch weh, wenn ich eine Tür zuziehe und wenn ich mir den Po abwische.
Wir kommen am Buchladen vorbei, und ich muss ein Pixie-Buch aus der öden Connie-Reihe kaufen. An der Kasse liegt der neue Knausgard, Juli Zeh behauptet auf der Rückseite „Gehört zum Besten an Literatur, was derzeit geschrieben wird“. Auf dem Cover sieht Knausgard beneidenswert männlich aus, volles Reinhold-Messner-Haar, Zigarette im Mund. Ich kann nicht sagen, was das Beste an Literatur ist, was zur Zeit geschrieben wird, ich schaffe nur vier bis sechs Bücher im Monat. Auf unserem Treppenabsatz liegt ein Buch über Goya zum Verschenken, früher hätte ich es mitgenommen, jetzt fehlt mir der Platz. „Lady Chatterleys Liebhaber“ will auch keiner, daraus haben wir uns bei der Konfirmandenfahrt schweinische Stellen vorgelesen. Nachhausekommen ist besser, weil meine Schulter beim Türaufdrücken nicht so wehtut wie beim Türzuziehen.
Jochen Schmidt
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