Privilegien der feiernden Jugend

PREMIERE Fröhlicher Horrortrip: In der Neuköllner Oper ist seit gestern „Affe“ zu sehen, eine Musical-Fassung von Peter Fox’ Album „Stadtaffe“. Seine Songs funktionieren auch, wenn sie vom Ensemble performt werden

Örtliche Betäubung auf Neuköllner Art Foto: Matthias Heyde

von Uli Hannemann

Die Wohnungstür ist schon auf, doch das Flurlicht vorschnell gelöscht. Beim Versuch, das Treppenhaus zu betreten, kracht der Kopf gegen die Kante der tückisch wieder halb zugefallenen Tür. Ein blutender Cut über dem linken Auge. Im Bad werden vergeblich Medizinkisten durchwühlt: kein Pflaster. Am Ende findet sich immerhin noch etwas Leukoplast. Die Brille ist zum Glück heil geblieben.

Es wäre schade gewesen, hätte ich die Premiere in der Neuköllner Oper durch den Nebel von minus 3,5 Dioptrien verfolgen müssen. Aus Peter Fox’ 2008 erschienenem Solo-Album „Stadtaffe“ haben John von Düffel (Buch) und Fabian Gerhardt (Buch/Regie) das Musical „Affe“ entwickelt. Und wenn auch die Türperformance nicht zum Stück gehört, hätte sie bestens hineingepasst. Denn „Affe“ zelebriert das Hohelied fahrlässig herbeigeführter Teil- und Totalschäden im Berliner Nachtleben – das Thema des „Stadtaffen“ und zugleich das des Abends.

Erwachen im Krankenbett

Zu Beginn erscheint alles noch relativ klar: Da erwacht F. (Anton Weil) im Krankenhaus, krabbelt über den Boden und verwickelt sich im riesenhaften Ladekabel eines Smart­phones, das die rechte Seite der Bühne (Michael Graessner) beherrscht, links steht ein Krankenbett mit Nachtkästchen: Er hat es wohl übertrieben. Die Krankenschwester (Achan Malonda) betreut mit energischer Hand den Patienten Partyleiche. Die erste Rückblende ist ebenfalls klar: der Streit („Du hast getrunken“ – „Man muss trinken, sonst stirbt man“) um drei Uhr morgens mit Freundin Lea (Amy Benkenstein) und nun natürlich erst recht zurück auf die Piste mit dem besten Kumpel Zaza (Sohel Altan Gol).

Schnell allerdings mischen sich Trip und Traum, Erinnerung und Ahnung. Ein irrer Stadtstreicher (großartig: Sergej Lubic) sucht F. im Krankenhaus auf. Kurz darauf wird F. mit Zaza in einem Club von einem affenartig kreischenden „King“ (Sergej Lubic) und einer „Königin der Nacht“, die doch zugleich Lea ist, zum Tode verurteilt. Höchstwahrscheinlich sind auch hier die Drogen schuld am Trugbild. Denn stets aufs Neue befindet er sich im Krankenbett. Da dürfte er wohl schlicht die ganze Zeit gewesen sein. Aber auch das weiß man nicht. Im Grunde weiß man nichts sicher. Ist Lea nun bei einem von F. im Rausch verursachten Autounfall gestorben, hat sie F. verlassen, wie die stalkende Nachbarin (Rubini Zöllner) behauptet, oder wartet sie zu Hause? Ist Zaza tot, gerade mit F. unterwegs beim Feiern oder sitzt er am Krankenbett seines besten Freundes? Ein zwischen ihnen schwelender Konflikt wird wiederholt thematisiert – die tatsächlichen Folgen für sie und ihre Freundschaft verbleibt im Ungewissen.

Mehrfachrollen werden geschickt in den Bezügen verschränkt. So nimmt die Psychologin Bezug auf die Nachbarin (beide Rubini Zöllner), der Arzt (Sergej Lubic) scheint ein alter Bekannter von Lea zu sein, oder gar mehr als das? Und gerade in dieser scheinbar eindeutigen Szene gegen Ende denkt man kurz: Nun schwingt wohl doch der alte Onkel Erklärbar etwas grob die Keule, bis einem einfällt, dass auch diese Episode wieder komplett gebrochen sein kann und eventuell sogar die trügerischste von allen. Aber vielleicht bin ich ja auch einfach blöd. Was jedoch ein großes Geschenk sein kann, denn wie viele Stücke sieht man dann hier auf einmal! Und blöd zu sein ist schließlich auch ein Privileg der feiernden Jugend. Auch Drogen nimmt man, um auf die eine oder andere Art gepflegt blöd zu sein. Genau hier holt das Stück die Zuschauer ab und nimmt sie mit.

Drogen nimmt man, um auf die eine oder andere Art gepflegt blöd zu sein

Dunkle Stimmen

Das alles entlang der Musik des „Stadtaffen“: Stark fängt es gleich an mit dem Hit „Schwarz zu blau“ – überhaupt sind die Songs am eindrucksvollsten, die vom ganzen Ensemble gemeinsam performt werden. Zunächst wirken die dunklen Stimmen von Weil und Gol sowie die der ausgebildeten Sängerinnen Zöllner und Malonda prägender, doch auch bei den anderen schätzt man dann die eigene Note, alles effektiv unterstützt von der fünfköpfigen, streicherlastigen (Original!-)Band (musikalische Leitung: Fred Sauer).

Der Grundton ist leicht, es macht Spaß. Doch es werden auch ernste Themen verhandelt. Tod, Sucht, Entzug, Verrat. Und dann steht Zaza vor dem Bett von F. und verkündet feier­lich: „Das ganze Unglück der Menschen kommt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen können.“ Falls er da steht – es ist eben das, was wir in dem Moment gerade sehen. Alles nur ein Traum? Oder ein Trip? Oder doch die Wirklichkeit? Aber ist die nicht ohnehin ein einziger Horrortrip? Als Zugabe gibt es „Schüttel deinen Speck“.

Nächste Vorstellungen, heute 25. 11., 26. 11., 27. 11. jeweils 20 Uhr, wieder ab 1. 12. bis zum 5. Januar 2017, Neuköllner Oper, Karl-Marx-Str. 131–133