eine emotionsgeschichte
: Sie waren Deutschland

„Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren!“, so lautete ein Slogan der Hitlerjugend. Sterben mussten im „Dritten Reich“ in erster Linie die Opfer des Rassenwahns. Aber es starben auch Heerscharen deutscher Jugendlicher, die voll Begeisterung in den Krieg zogen. Wie kommt es, fragt die Münchner Jugendforscherin Sibylle Hübner-Funk, dass Menschen so ganz gegen ihr eigenes Überlebensinteresse handeln? Und wie kam diese von 1918 bis 1930 geborene „HJ-Generation“ mit dem Systemwechsel von 1945 zurecht?

Das Besondere an der Studie „Hitlers Garanten der Zukunft“ ist, dass die Autorin die Begeisterung der Hitlerjungen und „deutschen Mädels“ ernst nimmt. Wiewohl es ihren politischen Überzeugungen völlig widerstrebt, versucht sie die Welt mit den Augen dieser Jugendlichen zu sehen, unter anderem indem sie sich in deren später geschriebene Autobiografien vertieft. Ob Prominente wie Helmut Schmidt und Erhard Eppler oder weniger Bekannte wie Renate Finck und Melita Maschmann – nicht wenige haben versucht, zu beschreiben, wie jener Prozess ablief, den Sibylle Hübner-Funk für die Nazizeit „De-Zivilisierung“ und für die Zeit danach „Re-Zivilisierung“ nennt. Die These der Autorin bestätigt sich dabei immer wieder: Die Sozialisation unter Hitler hinterließ weit tiefere Spuren in der Psyche der ehemaligen AnhängerInnen, als diese zugeben wollen.

Die Soziologin macht zwei zentrale „Passionen“ dieser Generation aus: „Du bist zum Sterben für Deutschland geboren“ und „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Passion, dieses zwischen persönlicher Leidenschaft und religiöser Anbetung flirrende Wort, ist bewusst gewählt, denn für Hübner-Funk ist der Nationalsozialismus eine „politische Religion“. Er brachte seine Anhänger dazu, einen rauschartigen Liebestod auf dem „Altar“ des geliebten Vaterlandes feiern zu wollen. In Umkehrung der biblischen Gebote hieß es nun: „Du sollst töten“ und „Du sollst sterben“. Die zweite Passion, „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, galt der Züchtung einer neuen „Herrenrasse“, wobei sich der Einzelne keineswegs als „Herr“ begreifen durfte, sondern nur als ausführendes „Glied“ seines Volkes. Es gebe für das Individuum nur ein Menschenrecht, so Hitler, und das sei „die heiligste Verpflichtung, nämlich dafür zu sorgen, dass das Blut rein erhalten bleibt“.

Für die Überlebenden dieser Generation brachte das Kriegsende subjektiv natürlich keine Befreiung mit sich, sondern die Erfahrung absoluten Verlustes. Ihr persönlicher Gott war tot, ihr kollektives Heiligtum Deutschland zerstört und besetzt. Viele brachten sich um, weil sie doch „für Deutschland sterben“ sollten. Für die anderen begann der mühsame Weg der „De-Konversion“ und „Re-Zivilisierung“.

Die meisten, und vor allem die Männer, glaubt Hübner-Funk, hätten sich einfach nur angepasst und mit äußerlichem „Funktionieren“ in die neue Zeit gerettet. In den Worten eines Psychotherapeuten: „lebendig, aber in Wirklichkeit tot, unfähig, auch nur irgendetwas zu empfinden, irgendetwas zu denken, was nicht prinzipieller Struktur war“.

Auch die Frauen taten sich schwer, hatten am Ende aber offenbar weniger Probleme, ihre individuelle Schuld zu formulieren. „Ich habe ein rundes Dutzend Jahre gebraucht, um die innere Ablösung vom Nationalsozialismus zu vollziehen“, bekannte die frühere BdM-Referentin Melita Maschmann in ihrem Buch „Fazit“. Sibylle Hübner-Funk benutzt diese Lebensbeichte, um ein idealtypisches Verlaufsmodell der „De-Konvertierung“ und „Re-Zivilisierung“ herauszuarbeiten, das für viele Arten heilloser ideologischer Verblendungen gelten dürfte.

„Hitlers Garanten der Zukunft“ wirft den Scheinwerfer auf einen blinden Fleck der Totalitarismusforschung, die Emotionsgeschichte der Indoktrinierten, und ist damit unbedingt lesenswert. UTE SCHEUB

Sibylle Hübner-Funk: „Hitlers Garanten der Zukunft. Biographische Brüche – Historische Lektionen“. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2005, 442 Seiten, 30 Euro