Auf's Kleine konzentrieren

FAST GLEICHALT Um die Geschichten im Lokalen zu schätzen, muss man ein gewisses Alter erreicht haben, sagt die 31-jährige taz Vize-Chefin Katrin Gottschalk. Und: Sie ist jetzt so weit

Katrin Gottschalk

Foto: Stefanie Kulisch

ist seit Ende April 2016 stellvertretende Chefredakteurin der taz. Von 2012 bis 2016 war sie Chefredakteurin des feministischen Missy Magazine. Sie kam 1985 in Dresden zur Welt und ist somit nur ein Jahr älter als die taz.bremen.

von Katrin Gottschalk

Liebe taz.bremen,

Du und ich, wir sind fast gleich alt. Um ein Haar hätten wir uns nie kennengelernt. Als du 1986 an der Nordsee auf die Welt kamst, lebte ich seit einem Jahr in Dresden. Es war eine ganz andere Welt. In der DDR hätte ich dich gar nicht lesen können. Auch weil ich überhaupt noch nicht lesen konnte. Da warst du schon viel weiter als ich.

Als Buchstaben nach und nach Sinn für mich ergaben, dachte ich, Dresden sei ein Land, Deutschland. Deshalb auch das „D“ auf den Autos. Meine Stadt als der Nabel der Welt, klar. Mit der Bewusstwerdung, dass die Welt um Einiges größer ist, wurde Dresden immer uninteressanter. London, Paris, Berlin – die großen Städte schimmerten so aufregend wie sonst nichts. Das Bekannte, das Naheliegende, war eher so gähn. Eine Zeit lang zumindest.

Jetzt lebe ich seit zehn Jahren in Berlin, die letzten davon sogar in derselben Wohnung. Ich schlage Wurzeln. Aus dem eindimensionalen Blick aus der Ferne ist eine mehrdimensionale Liebe zum Alltag geworden. Neuerdings interessiere ich mich für die Nachbarin, die seit den Fünfzigern in diesem Haus wohnt. Für das Protestbündnis gegen Gentrifizierung schräg gegenüber. Für den depressiven Hund auf dem Balkon eine Querstraße weiter. Ich glaube, um die Geschichten im Lokalen zu schätzen, muss man ein gewisses Alter erreicht haben.

Liebe taz.bremen, ich bin jetzt so weit.

Ich habe Kulturwissenschaften studiert – forschen vor der eigenen Haustür war eines der zentralen Themen. Meine Haustür steht in Berlin. Deine steht in Bremen. Deine Geschichten kommen über das Netz aber auch zu mir. Und dann sauge ich sie auf, weil sie genau sind, weil sie sich auf das Kleine konzentrieren anstatt alles umfassen zu wollen. Und dabei trotzdem oft Geschichten über das große Ganze erzählen.

Eine der meist gelesenen Artikel im Mai dieses Jahres auf taz.de handelte von der Kaiserschnittrate in Deutschland – und beginnt mit der Landesfrauenbeauftragten in Bremen. Viel beachtet wurde online auch ein Blick in die Thalia-Buchhandlung vor Ort im Oktober. An zentraler Stelle wurden dort extrem rechte Bücher angepriesen. Wie Deutschland seine koloniale Geschichte aufarbeitet, ließ sich an einem Erinnerungskonzept des Bremer Senats sehen: Die afrikanische Community vor Ort, die vom Prozess ausgeschlossen wurde, bekam erst in der taz.bremen eine Stimme – und so eine breite Aufmerksamkeit.

Jetzt, da wir gleich alt sind, du und ich, liebe taz.bremen, bin ich da angekommen, wo du schon lange bist. Ich sehe: Der Teufel steckt im Detail. Und deshalb muss man den Details Aufmerksamkeit schenken. Man nennt es Lokaljournalismus. Hinter 30 Jahren taz.bremen stecken 30 Jahre unabhängiger, immer hervorragender und mitunter preisgekrönter Lokaljournalismus.

Alles Gute zum Geburtstag!