ZEIT.ORTE

Helmut Höge, geboren 1947, ist Aushilfshausmeister und schreibt seit 1980 für die taz unter anderem Regionalrecherchen, über Wirtschaft und Naturkritik. Beim Verlag Peter Engstler ist außerdem seine zwölfbändige Reihe „Kleiner Brehm“ mit Texten zu Tieren erschienen. www.blogs.taz.de/hausmeisterblog

Plan B

Helmut Höge, geboren 1947, ist Aushilfshausmeister und schreibt seit 1980 für die taz unter anderem Regionalrecherchen, über Wirtschaft und Naturkritik. Beim Verlag Peter Engstler ist außerdem seine zwölfbändige Reihe „Kleiner Brehm“ mit Texten zu Tieren erschienen. www.blogs.taz.de/hausmeisterblog

Helmut Höge

Den Begriff „Plan B“ kenne ich erst seit der Wende – er kam aus dem Osten. Ein Jahr zuvor war mir dort bereits der Bandname „Feeling B“ bekannt geworden. In Warschau, wo die Punkgruppe sich im Nationalstadion an der Performance „Polishing Polish Parts“ von zwei Fluxuskünstlern aus Hannover beteiligte. Sie befand sich damals gerade auf einer Tournee mit ihrem Kleinbus durch Polen, wo sie manchmal für ein Linsengericht spielte, auch ihr Auftritt in Warschau brachte nichts ein, denn das internationale Fluxus-Festival hatte der kommunistische Studentenverband organisiert, und der wies jede ungeplante Honorarforderung weit von sich. Das nächste Mal kam mir „Feeling B“ im Fernsehen unter. 1989 kuckte man in Westberlin unentwegt die Live-Übertragungen des „Runden Tischs“ und die „Aktuelle Kamera“, die damals noch von der vermeintlich regimetreuen Angelika Unterlauf moderiert wurde. Wenig später arbeitete sie aber schon für Sat.1, wo sie zusammen mit einer friesischen Mongolistin Sozialreportagen drehte.

Gezeigt wurde in der „Aktuellen Kamera“ ein kleiner Tumult vor dem Sitzungssaal der DDR-Volkskammer, da trat auch schon der SED/PDS-Abgeordnete Gregor Gysi aus dem Saal – und wurde sofort bestürmt von „Feeling B“, d. h. von den Musikern Landers, Flake und ihrem Sänger Aljoscha Rompe: „Gregor, die Grenze muss sofort wieder dicht gemacht werden, sonst ist es zu Ende mit der DDR!“ Gysi zuckte nur kurz mit der Schulter und lächelte zaghaft – als wär’s ein schlechter Witz. Und das war alles. Ich, der Fernsehzuschauer aus dem Westen, verstand schon gar nicht, was dieser „Vorstoß“ von „Feeling B“ sollte. Erst ein Jahr später wurde allen klar, wie recht sie gehabt hatten. Geradezu prophetisch inmitten der allgemeinen Euphorie und des ganzen (demokratischen) Aufbruchs, Abbruchs, Umbruchs.

Kein Wunder, dass damals „drüben“ andauernd von „Plan B“ die Rede war, meistens von forschen Altkomsomolzen, die inzwischen alle minolfarbene Anzüge trugen und schwer beschäftigt waren. Einer, der in Moskau studiert hatte, verriet mir, dass es sich bei „Plan B“ um den Titel eines Textes von einem Autor aus der Sowjetunion handeln würde, wo ein „Plan B“ seit den dreißiger Jahren nichts weiter bedeutete als die Kennzeichnung einer von zwei Forschungs- bzw. Entwicklungsbrigaden, die auf immer mehr „Projekte“ gleichzeitig angesetzt wurden – und dann in einen „sozialistischen Wettbewerb“ um die beste und schnellste Problemlösung traten. „So dachten sich die das da oben!“ Nun in der immer schneller schwindenden DDR bedeutete es so viel wie, sich selbst mindestens zwei Lösungen für das überraschend privatisierte Problem Lebensplanung, Sinnfindung, Alterssicherung einfallen zu lassen. Postsozialistischer Realismus war jetzt gefragt. Ein Beispiel : Der Futter­ökonom in der LPG „Florian Geyer“ Saarmund, Jens, fing plötzlich an, Liegeplätze für Boote zu verpachten. Das gelang ihm einkommensmäßig so gut, dass er die LPG verließ – lange bevor sie sich auflöste. Sein Kollege Egon sammelte derweil alle Autoersatzteile in seinem Schuppen zusammen und bot sie auf dem Markt in Potsdam an. Die Leute wollten jedoch keine Ersatzteile für DDR-Autos mehr haben. Ein Opelhändler fragte ihn später, ob er nicht auch lieber statt seines Wartburgs einen Astra fahren würde ...Hinterher schimpfte Egon über den Wessi: „Den Wagen wollte er mir sofort verkaufen, aber woher ich das Geld dafür nehmen soll, darüber hat der sich keinen Kopp gemacht.“

Man könnte Tausend Geschichten von solchen und ähnlichen Projektemachern erzählen. Es gab aber nicht nur individuelle Fluchtpläne, sondern auch Kollektivprojekte. Der Tierpark in Friedrichsfelde war der erste DDR-Betrieb, der in der Wende so etwas wie einen Betriebsrat wählte. Jahre später erzählte mir der Elefantenpfleger Patric Müller: „Wir oder die Tierpfleger hatten das Gefühl, dass wir uns nicht mehr gut vertreten fühlten vom FDGB, von der Gewerkschaftsleitung. Es ging darum, eigene Interessen zu vertreten. Dazu haben wir einen Problemkatalog erstellt in den einzelnen Bereichen, was wen warum stört, wir wollten Mitspracherecht haben in dem, dem und dem. Etwas im Sinne von Gewerkschaften, wie man sie im Westen kennt, ist das noch nicht gewesen. Aber dann kamen all diese Dinge hoch, und es wurden Initiativen gegründet, wie eben den Sprecherrat, und dann war das fast so, dass er die Vertretung übernommen hat, auch offiziell. Ich war der Erste, der bei einer Betriebsleitungssitzung des Tierparks teilnehmen durfte. Das war natürlich hochinteressant. Ich war da sozusagen als Vertreter der Belegschaft. Der Sprecherrat erdreistete sich zu sagen: Wir wollen als Interessensvertretung nicht Mitsprache, aber doch zumindest mal hören, worum es geht. Und ich habe da auch mitgesprochen, damit habe ich mir nicht nur Freunde gemacht, wir wollten mitsprechen in tiergärtnerischen Fragen. Klar ist mir heute, dass das nicht wirklich auf jeder Ebene durchzusetzen oder machbar ist. Aber was ich heute noch genauso machen würde, mit vielleicht weniger jugendlichem Ehrgeiz und Temperament, das ist: mindestens die Verständigung, die Kommunikation zwischen der Wissenschaft und den Tierpflegern so zu gestalten, dass es den Tieren wie auch den Beschäftigten besser geht ... Ich glaube, ich muss mich nicht entschuldigen in dem Sinne, dass ich mir sage, ach hätte ich damals doch ... Ich glaube, ich würde es wieder so machen, also mich in die Auseinandersetzungen einmischen. Was ja letztlich dazu geführt hat, dass ich im Tierpark unfroh aufgehört habe und dann zu Hagenbeck nach Hamburg gegangen bin. Es sind einige aus dem Tierpark weggegangen, auch bei den Elefanten. Ein Kollege hat sich nach Thailand abgesetzt, wo er sich mit einem Elefantenprojekt für Touristen selbstständig gemacht hat.“

Zum Plan B gehört natürlich das entsprechende „Feeling B“. Als ich mal arbeitslos war, musste ich regelmäßig zur Arbeitsamtskontrolle, wo mich der junge Sachbearbeiter jedes Mal mit den Worten verabschiedete: „Sie suchen dann ja weiter wie gehabt über Vitamin B.“ B heißt Beziehungen, verriet mir irgendwann ein Kollege. Das gehört also auch noch dazu. Die Prenzlauer-Berg Szene um „Feeling B“ wurde 1987 filmreif: „Flüstern und Schreien“ hieß die „Ost-Punk-Doku“ (taz). Der Regisseur, Dieter Schumann, hatte darin die Frage „Rufen wir zur Revolution auf?“ mit Ja beantwortet – und das 68er-Credo des „Feeling B“-Gründers Aljoscha Rompe „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ programmatisch an das Ende des Films gestellt. Sein Koregisseur, Jochen Wisotzki, fand das „Projekt“ hernach jedoch „nicht politisch genug“. Er kann aber noch immer von der ruhelosen Renitenz des Punksängers Rompe schwärmen, dessen Biografie, so meint er, der Punkdichter und IM für alle anderen Punkdichter des Prenzlauer Bergs Sascha Anderson gern gehabt hätte. Aljoscha Rompe starb 2000 in seinem auf einem Hinterhof stehenden Wohnwagen an einem Asthmaanfall. Das Neue Deutschland titelte: „Ein Kämpferherz hat aufgehört zu schlagen!“ Seitdem veröffentlicht der Radio-Fritz- „Wellenleiter“ Ronald Galenza fast regelmäßig Bücher über ihn.

Wie wir alle wissen, auch wenn uns Tausend Apologeten des Schweinesystems das Gegenteil einreden wollen: Der Arbeiter-und-Bauern-Staat DDR ist nicht an zu viel Unfreiheit, sondern im Gegenteil an zu viel Freiheit – im Produktionsbereich nämlich – zugrunde gegangen. An dem, was die Hamburger Bankierstochter Birgit Breuel dann als „versteckte Arbeitslosigkeit“ (bei voller Lohnfortzahlung) bezeichnete. Dies verdeutlicht bereits der Ost-West-Vergleich „Hiddensee – Helgoland“: Während die Düsseldorfer „Toten Hosen“-Punks „Inselverbot“ bekamen, weil man auf Helgoland befürchtete, dass ihre Fans das Eiland zerstören könnten, hielt sich Rompes Punk-Scene sommers vorwiegend auf Hiddensee auf. Die Ethnologin Jeannina Lilienthal, die sich dort mit ihm verpaarte, erinnerte sich: „Ich war eine Woche allein auf der Insel und er ebenso. Wir trafen uns jeden Tag zufällig nachmittags oder abends ...Mein Ehemann verließ im September meine Wohnung in Berlin, er erkannte die Situation sehr schnell.“ Heute sind Punks nicht mehr gut angesehen auf der eingewesteten Dichterinsel.

Der Begriff des „Plan B“ gelangte frühzeitig von den Sowjets zu den Amis. Bereits 1958 berichtete der Spiegel: „Nach der Aufhebung der Berliner Blockade im Herbst 1949 sei von der Regierung Truman eine grundsätzliche Entscheidung über Deutschland gefällt worden. Als Chefplaner des State Departments habe Kennan damals empfohlen, den Sowjets auf der bevorstehenden Viererkonferenz in Paris einen Rückzug der amerikanischen Truppen aus Europa als Gegenleistung für das sowjetische Ja zur deutschen Wiedervereinigung anzubieten. Das sei der „Geheimplan A“ gewesen. Außenminister Acheson habe hingegen in einem „Plan B“ entschieden, dass Westdeutschland aufgerüstet und in die „atlantische Gemeinschaft“ aufgenommen werde. Dieser Plan B gelte noch heute ...“

Während der „Kubakrise“ 1962 ließ US-Präsident Kennedy einen „Geheimplan B“ ausarbeiten, der eine Invasion der Insel aus der Luft vorsah, falls die diplomatischen Verhandlungen mit den Sowjets scheiterten. Der Harvard-Professor William Ury erwähnt ihn in seinem Buch „Nein sagen und trotzdem erfolgreich verhandeln“. Neuerdings geht es bei dem Problem der „kurdischen Autonomie“ um die Frage, wenn man der Presse glauben darf: „Kerrys Plan B oder Putins Plan A?“

In Berlin-Mitte realisierte der Verkehrspsychologe Haiko Ackermann seinen Plan A, indem er eine verkehrspsychologische Praxis gründete, die er „Plan B“ nannte. „Zum Gespräch bringen Sie bitte alle schriftlichen Unterlagen mit (Strafbefehl, medizinische Befunde, Laboruntersuchungen, ärztliche Atteste, Bescheinigungen über Krankenhausaufenthalte oder über den Besuch von Selbsthilfegruppen, Therapiebescheinigungen und Vorgutachten, Schriftverkehr mit Anwälten und Führerscheinbehörde u.s.w.)“.

In Walsrode hat die „Wissenmanufaktur“ des „Vorstandsvorsitzenden einer sehr erfolgreichen Unternehmensgruppe“, Andreas Popp, und des „Systemanalytikers“ Rico Albrecht einen „Plan B“ ausgearbeitet, der eine „Verbundlösung“ bietet, dazu heißt es: „Plan B ist unsere Alternative zur ‚Alternativlosigkeit‘ der Politik. Anstatt innerhalb des bestehenden Finanzsystems über Wachstum und Schulden zu diskutieren, bieten wir ‚radikale‘ Lösungsvorschläge an. Fließendes Geld, soziales Bodenrecht, bedingungsloses Grundeinkommen und eine freie Presse ergeben im Verbund eine echte Alternative.“ In Rostock gibt es für Geringverdiener ein Restaurant namens „planb“ und in Wildeshausen eine Buchhandlung, die sich „Plan B“ nennt. Dort las der Schriftsteller Wladimir Kaminer einen Text über diese sowjetische Erfindung vor. Seine Veranstaltungen kann man bei der Agentur „planb-tickets“ buchen. Anfang des Jahres „schmiedeten“ auch noch vier osteuropäische Länder einen „Plan B“ (n-tv): „Sie wollen die Balkanroute stärker gegen Flüchtlinge abriegeln ... Es handele sich nur um einen ‚Plan B‘ für den Fall, dass Griechenland und die Türkei den Zustrom nicht begrenzen könnten, betonten die Regierungschefs der sogenannten Visegrád-Gruppe in einer gemeinsamen Erklärung.“

Daraus geht hervor, dass die ursprüngliche Absicht der Sowjets, jeweils zwei gleichberechtigte Arbeitsbrigaden zur Lösung eines wissenschaftlich-technischen Problems zu bilden, nach 1989 und beim Wechsel in den Westen einen anderen Charakter annahm: Plan A ist nun der favorisierte und Plan B der Ausweg, ein Notplan. Dazu ein Satz des 68-jährigen Penners vom Görli, Dirty Heini: „Wenn ich Samstag wieder nischt im Lotto gewinne, da sind diesmal 6 Millionen drinne, beantrage ich am Montag Rente – immerhin 160 Euro monatlich.“ Die Rente fungiert hier ganz eindeutig als „Plan B“ – als zweitbeste Geldbeschaffungsmaßnahme (GBM). Manchmal wird das auch direkt gesagt: „Lass uns am Sonntag in den Botanischen Garten gehen oder, falls es regnet, ins Naturkundemuseum – Plan B.“

Gegen diese neoliberale Herabsetzung des Plans B – im Sinne eines „B-Movies“ – ist kein Krautrock gewachsen. 1984 hatte der Sänger Johnny Haeusler in Westberlin angesichts der im Jahr zuvor gegründeten Ostpunkband „Feeling B“ eine Band namens „Plan B“ gegründet; sie löste sich jedoch 1996 auf, während sich aus „Feeling B“ die Gruppe „Rammstein“ rausmendelte, die noch heute tourt. Kürzlich nahm Udo Lindenberg einen Song mit dem Titel „Plan B“ auf: „Schon als Kind, das war doch klar / check ich meine DNA ... / Und ich werde mich nicht ändern / werd kein anderer mehr sein / ich habe Tausend Pläne / doch ’n Plan B hab ich keinn.“ Eigentlich logisch in seinem Alter!