Wirtschaft ist Kreislauf

betr.: „Er war mein Kanzler“ von Joachim Lottmann, taz vom 5. 10. 05

Wie viele Artikel und Statements unserer Miegels, Sinns, Pierers und (leider auch) Schröders braucht es, um ein so schiefes Bild unseres Landes entstehen zu lassen? Omas Hüftgelenk wird gegen arbeitsuchende 19-Jährige ausgespielt, Facharbeiterlohn gegen die brotlose Plackerei der multifunktionalen Dauerpraktikanten. Und natürlich ist Deutschland hoffnungslos abgehängt, und natürlich liegt das an den Sonderleistungen für den Osten.

Doch wer 125 Milliarden für den Osten „unfassbar viel Geld“ findet, der sollte wissen, dass fast genau die gleiche Summe derzeit in den hundert deutschen Spitzenkonzernen und Private-Equity-Firmen rumliegt, weil man vor lauter Renditezwang nicht weiß, wohin damit. Und wer der Oma das Hüftgelenk verweigert, der sorgt dafür, dass der 19-jährige Pfleger ein weiteres Gratis-Praktikum durchläuft. Was der eine ausgibt, nimmt der andere ein. Und was wir sparen, können wir nicht einnehmen. Und was wir nicht einnehmen, können wir nicht ausgeben. Wirtschaft ist Kreislauf, nicht Wettlauf.

Liegt die Vermutung nicht viel näher, dass wir alle, die wir uns gegenseitig die Luft abklemmen, eigentlich alle Opfer desselben Kapitalismus sind, dessen Ziel eben nicht Wertschöpfung, sondern Wertabschöpfung ist? Seit 25 Jahren stagnieren die Märkte, die Weltwirtschaft wuchs in den letzten zehn Jahren um jährlich 2,2 %. Wer da zweistellige Renditen will, der muss sich das Geld von den Wertschöpfenden und Hilfebedürftigen holen.

INGO KLAMANN, Düsseldorf

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