ZEIT.ORTE

Jenni Zylka, Geheimagentin, lebt seit 28 Jahren in Berlin, schreibt Texte zu Kultur und Medien sowie Kurzgeschichten, hat zwei Romane für Rowohlt geschrieben, moderiert Filmgespräche und Pressekonferenzen, arbeitet in der Auswahlkommission der Berlinale und für andere Filmfestivals, nominiert Fernsehinhalte für den Grimmepreis, ist Jugendschützerin bei der FSF, kommentiert das Zeitgeschehen für den RBB, Deutschlandradio und den WDR, macht ein Radioliteraturmagazin, unterrichtet Journalismus, und sitzt gerade an ihrem ersten Drehbuch. Wenn sie in ihrer vielen Freizeit die Stadt verlässt, benutzt sie öffentliche Verkehrsmittel. Zu lange nicht aktualisierte Homepage: www.jennizylka.de

Salzbonbons

Jenni Zykla

Als ich in Bestensee einstieg, um zurück nach Berlin zu fahren, war die Regionalbahn vollgestopft mit Menschen. Inmitten von fünf Kindern und zwei Frauen mit Kopftuch, die auf nebeneinanderliegenden Vierer-Sitzgruppen saßen und fröhlich mit fremder Zunge schnatterten, ergatterte ich den letzten freien Platz. Ich klemmte meine Handtasche zwischen die Knöchel und lächelte dem jüngsten der Mädchen zu. Es lächelte zurück. Nach Berlin, fragte es. Ja, Hauptbahnhof, antwortete ich. Sind noch 54 Minuten.

Eine der Frauen begann, in einer großen Stofftüte zu kramen, und ich tippte auf Schokoriegel, Softdrinks oder Chips – typische Kindströster, die nicht auf den Abendbrotappetit, sondern auf den Langeweile-Jieper einwirken. Und außer Zucker und ungesunden Zusatzstoffen nicht viel mitbringen. Schließlich zog sie eine Handvoll teigfarbene, etwa kastaniengroße Kugeln hervor, die selbstgerollt schienen. Sie verteilte die Kugeln an die Kinder und ihre Freundin, und gab mir, die neugierig zuschaute, wie selbstverständlich auch eine. Oh, sagte ich gerührt, danke sehr! Was ist das? Die Frau guckte mich nur gütig an. Und ich habe so Hunger, behauptete ich. Das kleine Mädchen murmelte etwas. Es klang wie: "Achtung"...

Aber ich hatte den Teigklumpen schon an den Mund geführt, hatte schon herzhaft hineingebissen und sein Bouquet gekostet. Und musste im gleichen Augenblick all meine Willenskraft aufbringen, um mein Gesicht nicht entgleisen zu lassen. Die Kugel schmeckte schlimmer als alles, was ich in meinem Leben bislang gegessen hatte. Sie schien aus altem Salzteig zu bestehen, den man mit stinkendem Nieswurz und vergorenem Joghurt aromatisiert hatte. Ihre Konsistenz war eine Mischung aus elastisch, mehlig und gerade noch kaubar, und ihr sauer-salziges Aroma breitete sich in Millisekunden in meinem Mund- und Rachenraum aus. Ich räusperte mich, hustete verstohlen, versuchte, den Geschmack herunterzuschlucken. Aber er hing fest.

Ich schaute mich um. Sieben Augenpaare waren auf mich gerichtet. Sie beobachten, wie ich die Hand mit dem Klößchen sinken ließ. Ich zwang mich zu einem Lächeln. "Mmmh", machte ich. "Was ist das? Ist das selbstgemacht?" Meine Essensaugeberin nickte freundlich. "Gut, oder", riefen die Mädchen. "Jahaaa", sagte ich, führte meine Kugel nochmal zum Mund, um so zu tun, als ob ich daran knabberte. Aber die Kinder und die Frauen passten auf.

Ob das vielleicht nur ein Schildbürgerstreich ist, dachte ich verzweifelt, ein Prank, den die Familie traditionell mit Fremden anstellt? Ihnen bemehlte Mottenkugeln als Bonbons anbieten, die sie für solche Fälle immer mitführen, und sich dann zuhause über die Reaktionen kringelig lachen? Ich drehte mich zu den Mädchen um – sie steckten vor meinen Augen ganze Brocken in den Mund und kauten darauf herum. Auch die Frauen bissen genüsslich große Stücke von ihren Exemplaren ab. Zudem hielt das kleinste Mädchen schon seine Hand auf, in die sofort eine weitere Todeskugel gelegt wurde.

Auffordernd wies die Frau auf die Tüte. Ob ich auch noch eine wolle, übersetzte das Mädchen. "Nein nein", brachte ich heraus, "ich hab noch, eine reicht mir, danke". 30 Minuten bis zum Hauptbahnhof. Ich überlegte, in Königs-Wusterhausen auszusteigen, das angebissene Elend unter den Zug zu werfen und mir im Bahnhofsklo den Mund mit Seife auszuspülen. Aber dann hätte ich dort herumsitzen müssen, bis zum Anschluss in einer Stunde. Also blieb ich, wo ich war, die Geschmacksknospen überwältigt von der essigsauren Grabeswürze.

Zwanzig Minuten vor dem Hauptbahnhof kam mir eine andere Idee. Beim nächsten durch einen Gleiswechsel verursachten Rüttler ließ ich "aus Versehen" meine Kugel fallen. Sie rollte planmäßig auf dem abschüssigen, mit Taschen vollgestellten Gang bis vor die Schnauze einer Promenadenmischung, die neben unseren Vierergruppen auf dem Boden lag und hechelte. "Oops", sagte ich. Der Hund schnupperte kurz an dem Ding, dann winselte er und drehte sich weg.

Das Mädchen hatte jedoch mein Missgeschick beobachtet. Kauend tuschelte es mit seiner Mutter, die kramte ein neues Bällchen für mich aus der Tüte, und übergab es mir feierlich. "Ohhh", sagte ich, "danke". Die Frau bedeutete mir gestisch, es in den Mund zu stecken. Ich wolle es für später aufbewahren, behauptete ich, während der Luftzug beim Sprechen das Bukett im Mundraum anfachte. Die Frau griff wieder in die Tüte, holte eine Kugel heraus, wickelte sie in ein kleines Stück Papier, und gab sie mir. "Da, später", sagte sie bestimmt. "Jetzt du essen!" Sie zeigte auf die neue Kugel. Ich steckte die Vorratskugel ein, und schickte mich an, mit Todesverachtung an der neuen Kugel zu lecken – vielleicht hatte ich ja nur eine verdorbene erwischt, und alle anderen schmeckten wie köstlich-zarte Gnocchi, oder wie Ginger-Shortbread. Aber auch dieses Klümpchen Hölle verströmte seinen verdorbenen Hauch auf meiner Zunge. Vielleicht ist das eine Mutprobe, dachte ich, für Heiratskandidaten zum Beispiel. Wer die Kugel überlebt, wird in die Familie aufgenommen... Ich schluckte, und versuchte erfolglos, den Geschmack wegzuspeicheln. Der Hauptbahnhof war zehn Minuten entfernt.

Am Alexanderplatz hielt ich es nicht mehr aus. Ich stand auf, warf meine Handtasche über die Schulter, und verabschiedete mich von der Höllenkugel-Familie. "Falsch, rief das kleine Mädchen, du willst doch bis Hauptbahnhof!?" "Hab mich vertan", sagte ich schnell, "Alex ist eigentlich besser. Danke für den Proviant!" "Gesund", nickte die Mutter, "besser als immer Zucker!" "Jahaa", sagte ich, genau.

Ich sprang winkend durch die Tür auf die Gleise direkt vor den nächsten Süßigkeitenautomaten, spuckte dreimal kräftig aus, kramte währenddessen Geldstücke heraus, zog einen Schokoriegel und einen Tetrapack Fruchtsaftgetränk, und stopfte mir beides gleichzeitig in den Mund. Es schmeckte wie eine Göttermahlzeit. Vor allem die ungesunden Zusatzstoffe und der Zucker. Als ich mich umdrehte, sah ich den Zug weiterfahren. Aus einem der Fenster schauten vorwurfsvoll sieben Augenpaare.