Kein Grund zur Panik

Sondierungsgespräche sind demokratische Normalität. Die aufgeregte Berichterstattung nicht

VON BETTINA GAUS

„Ich habe Urlaub. Das heißt erstens: Christian Wulff wird nicht Kanzler und will auch nicht Kanzler werden. Und zweitens: Selbst wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, werde ich leider nicht zurückrufen.“ Der Mann, der diese Ansage auf seiner Mailbox hinterlassen hat, heißt Olaf Glaeseker und ist der Sprecher des niedersächsischen Ministerpräsidenten. Er sollte zum Regierungssprecher in Berlin befördert werden. Offensichtlich verfügt Glaeseker über eine seltene, kostbare Gabe: Er kann zwischen realer Politik und jenen Aufgeregtheiten unterscheiden, die allein den Produktionszwängen der Massenmedien geschuldet sind. Solche Männer – oder auch Frauen – braucht das Land.

Wer in diesen Tagen Radio hört, die Tagespresse liest, vor allem aber die Fernsehnachrichten verfolgt, muss den Eindruck gewinnen, ein zerstörerischer Meteorit rase unaufhaltsam auf die Bundesrepublik zu. Da könnte dann tatsächlich von Interesse sein, dass die Teilnehmer einer Gesprächsrunde das Gebäude durch einen Tunnel betreten haben, weil sie vermeiden wollten, dass aus ihrem Mienenspiel irgendwelche Rückschlüsse gezogen werden. Man will ja keine Massenpanik auslösen.

Aber es rast kein Meteorit auf das Land zu, sondern es finden Sondierungsgespräche für Koalitionsverhandlungen statt. Die Gefahr einer Panik besteht in diesem Zusammenhang nicht. Und dennoch wird kostbare Sendezeit auf Mitteilungen wie diese verschwendet: Der Wagenpark bewegt sich. Möglicherweise neigt sich das Treffen dem Ende zu. Worin besteht der Gehalt dieser Meldung? Warum müssen Zuschauer das erfahren? Ganz einfach: Weil die „Tagesschau“ inzwischen fast stündlich sendet. Weil Tempo und längst nicht mehr Substanz zum Gradmesser für die Qualität von Nachrichten geworden ist. In fast allen Medien. Weil im Nachrichtengeschäft nahezu alles erlaubt ist – nur etwas nicht: die wahrheitsgemäße Information, dass es nichts Neues zu vermelden gibt.

Wie sähe die berufliche Zukunft eines Korrespondenten aus, der vor einem Park von schwarz-roten Limousinen sachlich die Schnittmengen einer Linkskoalition oder einer Schwampel erörterte? Düster. Er würde gegen den Strom schwimmen. Das immer anstrengend und manchmal gefährlich. „Unter der Wächterfunktion der Medien hatten wir bisher etwas anderes verstanden als das Belagern von Hauseingängen“, schrieb der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble 1998 spöttisch. Inzwischen haben Politikerinnen und Politiker dazugelernt. Sie wissen, dass viele Berichterstatter glauben, ihrem investigativen Auftrag durch das Herumlungern vor verschlossenen Türen hinreichend gerecht zu werden. Legendär ist die Zeile, mit der die Lokalzeitung einer britischen Insel irgendwann erschienen sein soll: „Nothing happened today.“ Heute ist nichts passiert. Was für ein Respekt vor einem Berufsstand, der durch ein Grundrecht – die Pressefreiheit – geschützt wird, offenbart sich in dieser Überschrift! Und wie respektlos ist die Fülle von Gerüchten, Spekulationen, Nichtigkeiten, mit denen das Publikum derzeit gefüttert wird. Respektlos gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber dem hart erkämpften Gut der Meinungsfreiheit.

Die atemlose Art der Berichterstattung bleibt nicht folgenlos. Wenn über Wochen hinweg Erwartungen geschürt werden, es aber nichts substanziell Neues zu vermelden gibt, dann entsteht der Eindruck quälenden Stillstands. „Die“ Politiker bringen nichts zustande, „die“ Politiker sind unfähig, Probleme zu lösen. Während die Republik weiter orientierungslos dem Abgrund entgegentrudelt. So erzeugt man Politikverdrossenheit.

Wäre es erfreulicher, wenn zwei große Parteien, die einander über Monate hinweg erbittert bekämpften, nach den Wahlen deutlich machten, dass sie den Richtungsstreit so ernst gar nicht gemeint haben? Und deshalb unmittelbar nach Bekanntgabe des vorläufigen amtlichen Endergebnisses kaum noch Gesprächsbedarf hätten, sondern sich in zentralen Fragen umstandslos sofort auf eine gemeinsame Position einigen könnten? Ach so: Genau das passiert übrigens gerade.

Fast beiläufig haben sich die Unionsparteien von ihren Konzepten zur Arbeitsmarktreform und zur Gesundheitspolitik verabschiedet. Nicht etwa nach zähem Ringen als Morgengabe an den sozialdemokratischen Verhandlungspartner. Sondern ohne erkennbare Not und offenkundig als Ergebnis interner Beratungen über die Ursache des als enttäuschend empfundenen Wahlergebnisses.

Sorry, Leute? War ja nur ein Versuch? Man stelle sich jemanden vor, der die Kopfpauschale für eine gute Idee hält, Paul Kirchhof für einen Visionär der Steuerpolitik und den Flächentarifvertrag als Ursache aller ökonomischen Übel betrachtet. Und der deshalb CDU gewählt hat. Müsste der sich jetzt nicht betrogen fühlen? Vermutlich schon. Aber wir werden es nicht erfahren. Denn es sind derzeit allenfalls Fachleute, die sich für jene Sachthemen interessieren, die in anderen, ruhigeren Zeiten über Wochen hinweg die Nachrichtenlage beherrschen. Das breite Publikum wird mit Personalspekulationen unterhalten.

Immerhin: Irrelevant sind diese Spekulationen nicht. Ob die SPD darauf besteht, einen Außenminister zu stellen und ob der am Ende doch Gerhard Schröder heißt – das kann interessante Aufschlüsse liefern. Zum Beispiel darüber, ob die Sozialdemokraten die große Koalition als haltbar betrachten und mit welchem Kandidaten sie in den nächsten Wahlkampf ziehen wollen.

Verlässliche Informationen sind darüber derzeit nicht zu erhalten. Ist das ein weiterer Hinweis für die Orientierungslosigkeit der politischen Klasse? Nein, im Gegenteil. Es ist ermutigend, dass es beiden Seiten schon so lange gelingt, ihre jeweiligen Strategien für sich zu behalten.

Wenn ein Referententwurf, der niemals bis auf den Schreibtisch des zuständigen Ministers gelangt ist, als „Geheimplan“ einer Regierung wochenlang die Schlagzeilen beherrschen kann, dann hat das nichts mit Transparenz von Politik zu tun. Schon deshalb nicht, weil er meist von interessierter Seite lanciert worden ist. Derlei Indiskrektionen machen Politik nicht durchschaubar. Sondern sie verhindern Politik.

Der politische Alltag eignet sich nicht für einen Actionfilm. Wie derzeit die interessierte Öffentlichkeit erfährt, die Politikerinnen und Politikern bei der Arbeit zuschaut. Wenn sich dies als Ergebnis der Sondierungsgespräche im kollektiven Bewusstsein verankern ließe, wäre für den demokratischen Diskurs viel gewonnen. Ganz unabhängig vom konkreten Ausgang der Verhandlungen.