Herren und Knechte

FASSADENDEMOKRATIE Oligarchen, Populisten, Putschisten: Honduras offenbart die Probleme vieler Länder Lateinamerikas. Was muss passieren, damit sie ihre vordemokratischen Wurzeln endlich überwinden?

Zelaya wäre auch ohne Putsch nie ein honduranischer Lula geworden

VON TONI KEPPELER

Jeder hat nach seiner Sicht der Dinge recht, und eben deshalb ist eine Lösung des Konflikts in Honduras unmöglich. Manuel Zelaya hat recht, wenn er behauptet, er sei der rechtmäßige direkt vom Volk gewählte Präsident. Aber er verschweigt, dass er ein Urteil des Obersten Gerichtshofs des Landes einfach ignoriert hat und eine Volksabstimmung über die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung gegen alle anderen staatlichen Organe mit der Macht der Straße durchsetzen wollte. Roberto Micheletti behauptet, das Parlament habe ihn in einer völlig legalen Abstimmung zum Nachfolger des abgesetzten Zelaya gewählt, weshalb er der rechtmäßige Präsident von Honduras sei. Er verschweigt, dass an jenem 28. Juni, an dem er das höchst Amt im Staat eroberte, zuvor ein veritabler Militärputsch stattgefunden hatte, in dessen Verlauf Zelaya mit vorgehaltener Waffe aus dem Bett geholt und aus dem Land geworfen worden war. Nicht einmal das folgende pseudolegale Procedere seiner Inthronisation entsprach dem Regelwerk der Verfassung. Aber weder Zelaya noch Micheletti sind lupenreine Demokraten, nicht einmal im Schröder’schen Sinn.

Von außen und von ganz weit weg betrachtet könnte man sagen, die beiden repräsentierten unterschiedliche europäische Demokratiemodelle. Zelaya entspräche der präsidialen Demokratie; dem Modell Frankreich mit einem starken und direkt vom Volk gewählten Regenten. Micheletti wäre danach das Modell Deutschland: Der vom Parlament eingesetzte Regierungschef, der von diesem auch wieder abberufen werden kann. Nach dem Ende der Militärdiktaturen der Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre hatten die USA und Europa gedrängt, dass es in der Verfasstheit der lateinamerikanischen Staaten zumindest von außen betrachtet ein bisschen so aussieht wie in den USA oder in Europa. Aber Zelaya ist nicht Sarkozy und Micheletti ist schon gar nicht Merkel.

Die beiden repräsentieren vielmehr klassische lateinamerikanische Modelle: Micheletti steht für die Herrschaft der alteingesessenen Oligarchie; Zelaya wäre gerne ein richtiger Populist, der an allen staatlichen Institutionen vorbeiregiert, sich direkt ans Volk wendet und sich von diesem legitimieren lässt.

Pikanterweise gehören beide Protagonisten derselben Liberalen Partei an, und schon allein das zeigt, welche Bedeutung Parteien in Lateinamerika haben. Sie waren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nie Programmparteien, in denen sich aufgeklärte Bürger organisieren, um politische Ziele und Gesellschaftsmodelle durchzusetzen. Parteien waren und sind in Lateinamerika Interessenklüngel und meist um ein paar reiche Familien gruppiert, die regieren wollen – nicht fürs Volk, sondern für sich selbst. Demokratiemodelle westlicher Prägung sind aus der Aufklärung entstanden, die es in Lateinamerika nie gab. So sind die Fassadendemokratien bis heute eine Fortschreibung des spanischen Feudalmodells. Sicher, es wird regelmäßig gewählt. Aber es ist fast durchweg noch immer so, dass die Peones (die Untertanen, früher: die Leibeigenen) die Patrones (die Herren) wählen. Dass ein Peón wie Evo Morales in Bolivien oder ein halber Peón wie Hugo Chávez in Venezuela ins Präsidentenamt kommt, ist noch immer so etwas wie eine Sensation und verspricht jedenfalls nicht mehr Demokratie. Präsidenten werden in Lateinamerika nicht gewählt, weil ihre Partei oder ihr Programm sie überzeugten. Sie werden gewählt, weil das Volk etwas von ihnen erwartet. In aller Regel sind das Arbeit und Brot. Am besten durch einen Job beim Staat. Nach einem Regierungswechsel werden nicht nur Spitzenbeamte ausgetauscht, sondern die gesamte öffentliche Verwaltung bis hinunter zum Putzdienst.

Nach der Unabhängigkeit war Lateinamerika über ein Jahrhundert lang in zwei oligarchische Klüngel geteilt: die Konservativen, die den Landadel vertraten, und die Liberalen als Repräsentanten des Handels- und Finanzkapitals. In den vergangenen Jahrzehnten ist diese Aufteilung durcheinander gekommen, weil Großgrundbesitzer inzwischen auch Banken besitzen und Banker in Plantagen investieren. Micheletti als Fuhrunternehmer ist im traditionellen Sinn bei den Liberalen richtig untergebracht, der Großgrundbesitzer Zelaya dagegen wäre früher zu den Konservativen gegangen, die sich in Honduras Nationale Partei nennen. Aber Zelaya wollte ohnehin mit diesem System brechen. Allerdings nicht, um etwas Neues zu schaffen.

Wer in Lateinamerika den oligarchischen Parteienklüngel aushebeln und an den von ihm geschaffenen Institutionen vorbeiregieren will, braucht den Rückhalt des Militärs. Das zeigen Geschichte und Gegenwart: Juan Domingo Perón, der argentinische Vater aller lateinamerikanischen Populisten, war selbst Offizier. Oberstleutnant Hugo Chávez war 1992 mit einem Putsch gescheitert und gewann sechs Jahre später als Populist an den Urnen. Seine schwersten Stunden erlebte er im April 2002, als sich Teile der Armee von ihm abgewandt hatten und zurückgeschwenkt waren zur Oligarchie. Sein größtes Verdienst ist wohl, dass er diese Klüngel, die Venezuela jahrzehntelang ausgenommen und darüber die Mehrheit der Bevölkerung in die Armut gedrängt haben, nachhaltig von der Macht vertrieb. Doch seither ist Politik in Venezuela eine One-Man-Show. Ähnlich wie im benachbarten Kolumbien, nur dass dort Álvaro Uribe das Theater von rechts inszeniert. Auch er kann sich nur über das hergebrachte Schema aus Liberalen und Konservativen hinwegsetzen, weil er die Armee hätschelt. Das hat Zelaya übersehen. Er hatte das Militär gegen sich, und bevor er einen Schritt in Richtung einer neuen Ordnung getan hatte, war er schon weggeputscht.

Man darf sich nichts vormachen: Hätte Zelaya erreicht, was er wollte, wäre Honduras nicht zum aufgeklärten demokratischen Staat geworden. Er hatte kein kohärentes Programm, das über seine Person und seine Ambitionen hinausgewiesen hätte.

Parteien sind in Lateinamerika zumeist um reiche Familien gruppiert

Nicht einmal die aus Guerilla-Bewegungen hervorgegangenen linken Parteien haben es geschafft, zu einigermaßen demokratisch strukturierten Programmparteien zu werden. Die Kommunistische Partei Kubas und ihr Vorgänger, die Bewegung des 26. Juli, waren nie mehr als der Ein-Mann-Betrieb ihres erratischen Comandante en Jefe und wurden in der Familie weitervererbt. Die Sandinistische Befreiungsfront in Nicaragua ist im Familienbesitz der Ortegas. Und die FMLN in El Salvador ist eigentlich gar nicht so richtig an der Macht: Der Quereinsteiger Mauricio Funes hat die Partei nur als Vehikel benutzt, um ins Präsidentenamt zu kommen, und tut nun, was er will.

Was aber muss passieren, damit Lateinamerika seine vordemokratischen Wurzeln überwindet? Es braucht neue Parteien. Keine solchen, die von großen Familien oder einsamen Führern als Fußvolk um sich gesammelt werden, sondern Parteien, die aus sozialen Bewegungen heraus entstehen. Das schließt charismatische Figuren nicht aus. Brasiliens Präsident Lula da Silva und seine aus der Gewerkschaftsbewegung entstandene Arbeiterpartei in Brasilien sind ein Beispiel dafür. Lula steht für ein Programm: null Hunger für die Armen ohne Bruch mit dem kapitalistischen System. Das mag nicht sehr revolutionär sein, aber es hat Millionen von Menschen aus dem Elend geholfen. Eben deshalb ist Lula seit Jahren der beliebteste Politiker Lateinamerikas. Wenn er wollte, könnte er noch lange im Präsidentenamt bleiben. Eine entsprechende Verfassungsänderung, wie in anderen Ländern derzeit in Mode, wäre für ihn kein Problem. Aber er will nicht.

Zelaya wäre, hätte der Putsch nicht stattgefunden, nie ein honduranischer Lula geworden. Er hätte nur das Staatsmodell gewechselt: von der Herrschaft der alteingesessenen Eliten zu der eines populistischen Caudillo. Um sich eine Basis zu schaffen jenseits der traditionellen Parteien und Institutionen, hätte er wie damals Perón in Argentinien Sozialprogramme für die Armen auflegen müssen. Er hatte damit schon begonnen, und eben deshalb fordern vor allem die Armen seine Rückkehr. Demokratischer aber wäre Honduras mit ihm nicht geworden.

Trotzdem ist der Putsch nicht gleichgültig. Er zeigt, wie dünn der demokratische Anstrich auf solche Staaten aufgetragen ist. Und er zeigt, dass Putschisten in Lateinamerika weiterhin erfolgreich sein können, wenn sie nur hartnäckig genug sind. Micheletti und seine Freunde haben jetzt schon gewonnen. Denn egal, ob Zelaya – was unwahrscheinlich ist – noch einmal für ein paar Tage ins Amt zurückkommt oder nicht: der nächste Präsident von Honduras wird wieder einer der ihren sein. Andere aussichtsreiche Kandidaten gibt es bei der Wahl vom 29. November nicht. Das oligarchische Modell lebt weiter.

Toni Keppeler, 53, war von 1994 bis 2002 taz-Korrespondent für Mittelamerika und die Karibik. Heute pendelt er zwischen Tübingen und San Salvador. Zurzeit ist er in Honduras