„Ein ganz außergewöhnlicher Unfall“

Chemie Experte: Deutsche Sicherheitsvorkehrungen auf hohem Niveau. 20 bis 30 Störfälle werden jährlich registriert

BERLIN taz | Nach dem tödlichen Chemieunfall im BASF-Werk in Ludwigshafen bleibt bei Experten der Anlagensicherheit vor allem ein Gefühl der Unsicherheit.

„Das war gestern ein ganz außergewöhnlicher Unfall“, sagte Christian Jochum, stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Anlagensicherheit, die auch die Bundesregierung berät. Für Jochum war vor allem das lang anhaltende Feuer nach der Explosion in der Anlage auffällig. In Chemiebetrieben seien beim Umgang mit gefährlichen Stoffen normalerweise Begrenzungen eingezogen, die verhindern sollen, dass bei einem Feuer der gesamte Bestand des Stoffs abbrennt.

Die Sicherheit der deutschen Chemiebetriebe sieht Jochum insgesamt aber auf einem guten Niveau. „Unfälle in dieser Größenordnung wie am Montag in Ludwigshafen hat es in Deutschland schon lange nicht mehr gegeben.“ Die Zentrale Melde und Auswertestelle (Zema) im Umweltbundesamt registriert pro Jahr etwa 20 bis 30 meldepflichtige Störfälle, im Durchschnitt stirbt jährlich ein Mensch bei einem Chemieunfall. Das klinge gefährlich, sagte Jochum, andererseits verfüge Deutschland aber auch über 3.000 Betriebe der Chemieindustrie und damit über ein beträchtliches Risiko.

In Deutschland halte sich die Zahl der gemeldeten Chemieunfälle in den letzten Jahren stabil, so Jochum. Ob ein Zwischenfall überhaupt meldepflichtig ist, hängt von der Art der ausgetretenen Stoffe und den Schäden bei Menschen, Umwelt und Sachen ab. Näheres regelt eine Störfallverordnung.

Zwar habe er in der Presse verfolgt, dass es in diesem Jahr bei BASF an verschiedenen Standorten deutlich mehr Zwischenfälle gegeben habe als im Vorjahr, so Jochum, eine Pannenserie erkenne er aber nicht.

Jochum hat als Gutachter 2014 eine Unfallserie der Shell Raffinerie in Godorf bei Köln untersucht. „Häufig liegt die Unfallursache im Sicherheitsmanagement.“ Chemiebetriebe müssten immer wieder gegen die Routine bei ihren Mitarbeitern ankämpfen. „Wo mit gefährlichen Stoffen gearbeitet wird, da dürfen keine Abkürzungen genommen werden.“ Die Firmen müssten für strenge Vorschriften sorgen und vor allem deren Einhaltung genau überwachen.

„Deutschland ist bei der Anlagensicherheit seit Jahren schon nicht mehr führend“, sagte Roland Fendler, Experte für Sicherheit in Chemiebetrieben beim Umweltbundesamt. Vor allem Frankreich habe nach einem schweren Chemieunfall 2001 seine Vorschriften deutlich verschärft. Hingegen habe Deutschland strengere rechtliche Regelungen in den letzten Jahren abgebaut. Die Vorschriften seien an niedrigere europäische Vorgaben angeglichen worden. Auch im Zug der Deregulierung von Wirtschaftszweigen in den 1990er Jahre habe man chemische Anlagen aus der Pflicht entlassen.

Auch die neueste Version der europäischen Vorgaben, die sogenannte Seveso-Richtlinie-III, hat Deutschland noch nicht umgesetzt. Sie enthält Regelungen zur Einstufung gefährlicher Stoffe, zur Information und zur behördlichen Kontrolle. Die endgültige Umsetzung ist für Ende dieses Jahres geplant.

Das Umweltbundesamt forderte, für die Aufklärung des Vorfalls in Ludwigshafen eine unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen. Die Aufklärung sollte nicht allein bei den Landesbehörden liegen. Fendler beklagte, dass es in Deutschland kein Untersuchungsgremium für solche Störfälle auf Bundesebene gebe. Vorbild könnten die USA sein, dort untersucht die unabhängige Bundesbehörde Chemical Safety Board Chemieunfälle.

Markus Sehl