Der den Adventskranz erfand

VORWEIHNACHTSBRÄUCHE Der Kerzenkranz ist eine Erfindung des Hamburger Sozialreformers Johann Heinrich Wichern. Er hat nicht nur arme Kinder betreut, sondern auch die preußische Gefängnisreform vorangetrieben

Wichern war ein christlich motivierter Sozialreformer, der aber nicht auf politischen Umsturz zielte

VON PETRA SCHELLEN

Nein, der Adventskranz ist kein heidnisches Relikt. Es ist vielmehr die Erfindung eines Sozialreformers, nach dem hier und da eine Schule benannt ist und der aus Hamburg stammt: Von Johann Heinrich Wichern ist die Rede. Und dass die Diakonie, die Wichern quasi gegründet hat, jetzt ein Pixi-Buch zur Geschichte des Adventskranzes herausgab, ist nur der winzige Anlass, um auf Spurensuche zu gehen.

Denn das Holzrad, das er 1839 mit weißen und roten Kerzen schmückte und in einem Hamburger Kinderbetreuungsheim aufhängte, ist nur eine Fußnote seines umfangreichen sozialreformerischen Engagements. Das beweist schon der Ort, an dem der Kranz hing: im Rauhen Haus der Hamburger Diakonie, das heute noch existiert und das er 1833 zuvor als Auffangstation für Kinder aus armen Familien gegründet hatte.

Damals war er als Pfarramtskandidat im Hamburger Elends-Stadtteil St. Georg tätig. Er unterrichtete dort arme Kinder in einer Sonntagsschule, die keine andere Chance auf Bildung hatten – und er tat mehr: Er suchte die Kinder zu Hause auf, sah ihre Eltern und Geschwister, ihre beengten Wohnungen, Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit.

All diese Beobachtungen hat er akribisch aufgezeichnet – in einer kleinen sozialstatistischen Erhebung, die er später selbst edierte. Ihm war klar: So durfte es nicht bleiben. Kurz darauf –1833 – gründete er in Hamburg das Rauhe Haus, das die Idee der SOS-Kinderdörfer antizipiert: „Familien“ aus acht bis zwölf Kindern zogen dorthin – stets im Konsens mit den Eltern und mit der Chance, jederzeit zu gehen. Betreut wurden sie von „Brüdern“ bzw. Diakonen. Das waren evangelische, unverheiratete junge Männer mit gutem Leumund, die Wichern zu Erziehern ausbildete.

„Wicherns Arbeit“, sagt sagt die Hamburger Historikerin Sigrid Schambach, die 2008 ein Buch über Wichern schrieb, „markiert den Anfang der Diakonie, wie wir sie heute kennen.“ Wichern habe durch die Ausbildung dieser Erzieher hierfür die Grundlage geschaffen, allerdings nie aus einer Idee politischen Umsturzes heraus. Er wollte vielmehr die Armut lindern, die er vorfand – aus christlichem Ethos.

Und Wichern kritisierte seinen eigenen Arbeitgeber – die evangelische Kirche – hart dafür, nur auf Verkündigung, sprich: Predigt zu setzen, anstatt in die Welt hinauszugehen und tätige Hilfe zu leisten. So radikal wie die später erstarkende Arbeiterbewegung war er allerdings nie. Er wollte lediglich Elend lindern und den Armen ihre Würde zurückgeben.

Und das machte er gut: Die „Brüder“ des Hamburger Rauhen Hauses gründeten später weitere Heime, laut Schambach „eine Art Schneeball-Effekt, dem durchaus etwa Missionarisches anhaftete“. Eben jene Innere Mission, die Wichern auf diesem Wege auch gründete. Und deren Ideen er bewusst in Publikationen verbreitete.

Wicherns Engagement allerdings reichte weiter: Er trieb auch die preußische Gefängnisreform voran – ein Thema, das angesichts der überfüllten Massenunterkünfte europaweit in der Luft lag. Um 1850 wurde sie auch in Preußen zum Thema. Wichern sah, dass die dortigen Zustände nicht menschwürdig waren und schlug verschiedene Reformen vor: Geschlechtertrennung, Arbeits,- und Bildungsmöglichkeiten, Außenkontakte sowie Seelsorge und, vor allem: Einzelhaft.

Das ist ein Begriff, der auch damals umstritten war“, sagt Schambach. „Aber Einzelhaft bedeutete nicht Isolationshaft. Manche Gefangene erstrebten die Einzelhaft als Privileg, um nicht mehr mit vielen Menschen zusammen auf engem Raum festgehalten zu werden.“

Wörtlich schrieb Wichern: „Die vollständige Einzelhaft wäre eine neue Grausamkeit, wenn sie, wie sie höchst irriger Weise oft in öffentlichen Tagesgesprächen dargestellt wird, absolut einsame Haft wäre. Absolute Einsamkeit eines Menschen ist dem Tode gleich, wenn sie nicht etwa auf Selbstentsagung wie bei dem Eremiten beruht. Einzelhaft ist aber keine Einsamkeit.“

Als Gefangenenbetreuer setzte Wichern seine „Brüder“ ein, die hierfür speziell ausgebildet wurden. „Es war ein großer Fortschritt, dass über die Ausbildung von Gefangenenwärtern nachgedacht wurde. Denn normalerweise wurden Gefängnis-Insassen von ehemaligen Soldaten betreut, und die waren nicht sehr qualifiziert ausgebildet.“

Das politische Klima war damals günstig für Wichern: Ende der 1860er-Jahre stimmte die preußische Regierung für die Reformen. Allerdings hielt sich Wichern nicht lang. Bald schon gab es Kritik an den „Brüdern“. „Den Liberalen war Wichern zu konservativ“, sagt Schambach. „Man fürchtete christliche Indoktrination und schätzte es nicht, dass die Brüder nicht dem preußischen Staat unterstellt waren.“ Wichern resignierte und zog die Brüder Ende bis Mitte der 1860er-Jahre aus den Gefängnissen ab.

„Sein Angebot war nicht mehr so gefragt“, sagt Schambach. Neue politische Strömungen wie die Liberalen und auch die Arbeiterbewegung hätten für die sozialen Probleme um 1860 neue Antworten gefunden. „Wicherns Lösungen waren aber stets religiös gemeint“, sagt Schambach. „Dafür hatten weder die Liberalen noch die Arbeiterbewegung Verständnis.“ Und so lasse sich Wichern als Sozialreformer lesen, über den die Zeit hinweggegangen sei: „In seiner Jugend war er mit seiner Armenbetreuung ein Pionier“, sagt sie. Im Alter aber sei ihm seine Zeit fremd geworden. „Wichern war ein Scharnier zwischen den Zeiten.“