: Unlust am Leben
Freitod Frei nach Motiven Christa Wolfs untersucht Anne Schneiders Performance „KeinOrt.Finsternis“ die Sehnsucht nach dem Tod am Beispiel Heinrich von Kleists und Caroline von Günderrodes
von Katrin Ullmann
Ihren Leichnam könne sie überall liegen sehen. Das mache ihr gar nichts aus, aber dass man nicht gehen kann, wann man will, aus diesem unlebbaren Leben. Obwohl sie immer einen Dolch bei sich trage. Hier sei tatsächlich „kein Ort. Nirgends.“ So lässt die Schriftstellerin Christa Wolf die Dichterin Caroline von Günderrode zu Wort kommen. Sie und Heinrich von Kleist sind die Protagonisten in Wolfs Erzählung mit eben jenem Titel „Kein Ort. Nirgends“. Das Buch erschien 1979 zugleich in der heimischen DDR und in Westdeutschland. Kurz darauf war es ein Bestseller.
Die deutschen Dichter begegnen sich in diesem Stück Literatur, all das ist vollkommen fiktiv, bei einer scheinbar tiefsinnigen Teegesellschaft Ende des 18. Jahrhundert. Die beiden schwermütigen Künstler sind stets auf der Suche nach einem Ausweg aus der gesellschaftlichen Enge. Zwischen Heißgetränken, Dichter-Talk und süßem Gebäck stehen sie herum wie Falschgeld, wie Fremdkörper. Nicht dazugehörig, ausgestoßen. Die Assoziation zum zensierten Dasein in der DDR liegt nahe. Die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 war für die Künstlerszene der DDR ein einschneidendes, tief prägendes Erlebnis.
Für die Regisseurin Anne Schneider ist Wolfs Text eine dunkle Inspirationsquelle zum Thema Depression. Schließlich beenden Caroline von Günderrode und Heinrich von Kleist ihr unglückliches Leben Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem Freitod. Parallelschicksale. Und so hat Schneider – frei nach eben jenen Motiven – im Lichthof einen Abend mit dem Titel „KeinOrt.Finsternis“ erarbeitet. Gemeinsam mit einem Team aus Tänzern und Schauspielern, und gemeinsam mit der Choreografin Victoria Hauke. Es ist – nach „Das BiestA“ – der zweite Teil der Trilogie „Außenwelten“, in der Schneider verschiedene Aspekte von Außenseitertum untersucht.
Schneiders Lesart des Textes passt. Sprechen die beiden Protagonisten doch fast fortwährend von ihrer Unlust am Leben, vom Wunsch, einen Heldentod zu sterben, und von der Verzweiflung darüber, „dass man nicht gehen kann, wenn man will“. Bei Caroline von Günderrode und Heinrich von Kleist breitet sich in den Abgründen ihrer Seelen ganz offenbar dieselbe dunkle Farbe aus, „wie schwarze Tinte in einem Gefäß mit klarem Wasser“.
Auf einem großen verdrehten Holzgitter (Ausstattung: Giulia Paolucci) lässt Schneider die Darsteller agieren, weist Judith Rosmair als Günderrode und Rainer Strecker eindeutige Rollen zu, die mal mehr, mal weniger umspielt und begleitet werden von den Stimmen und Bewegungen der weiteren vier Performer.
Es ist ein sehr puristischer, zugleich aber auch textintensiver Abend. Deutlich merkt man ihm die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Christa-Wolf-Erzählung an. Und Rosmair und Strecker geben ihr Bestes, um sich den blumigen Wortbildern der beiden deutschen Romantik-Testimonials entgegenzustemmen. Meist tun sie das mit möglichst viel Gelassenheit in der Stimme, mit angenehm reduzierten Gesten und einem sich im Publikum, in der Ferne verlierenden Blick.
Von Todessehnsucht und Verzweiflung soll also vor allem der Text selbst erzählen, während die beiden Hauptdarsteller nur manchmal wackelnd die Balance im Bühnengitter und damit in ihrem Leben suchen. Zwischendurch wird ein herzklopfender Taktschlag (Sound: Martin Glos, Christian Ziegler) dazugeschaltet, dann geht das Ensemble stockend auf der Stelle oder krabbelt als Spinnengetier durchs Netz. Mit Sätzen wie „Die Depression ist eine Spinne – wie eine Spinne, die zupackt“ entfernt sich dann auch der Bühnentext kurzzeitig von der Wolf’schen Vorlage.
All dies geschieht mit einer großen Ruhe und mit einer großen Sicherheit. Dennoch (oder gerade deshalb?) bleibt die Inszenierung – entgegen dem eigentlichen konzeptionellen Vorhaben, auf der Textfolie von Christa Wolf, die Volkskrankheit Depression untersuchen zu wollen – in der (fiktiven) Historie stecken, verliert sich in der sprachvirtuosen Annäherung zweier Lebensmüder. Bei diesem gut gearbeiteten, (zu) fein säuberlichen Rezitationstheaterabend muss man nach Gegenwartsbezügen, nach Untiefen, rauen Brüchen und verstörenden Momenten lange suchen.
Und doch gibt es sie. Etwa wenn Lisa Rykena sich – ist es noch Tanz oder schon ein epileptischer Anfall? – in einem unheimlichen, zuckenden, kurzen Solo verliert. Wenn sie mit beinahe spastischen Verrenkungen kontrolliert austickt. Unvorhersehbar und mit einer absolut perfekter Körperbeherrschung.
Oder wenn das gesamte Ensemble eine Suizidchoreografie performt. Mit einfachen Gesten mimen die Darsteller dann zügig verschiedene Selbstmordmöglichkeiten: erstechen, vergiften, erhängen, erschießen – und noch mal von vorn. Dann entsteht ein großartiger Moment zwischen Komik und Grauen, zwischen Lachen und Weinen, nah am seelischen Abgrund. An diesem Abend gibt es wenige, aber es gibt solche Momente. Meist sind sie überraschenderweise fern vom Ausgangspunkt des Abends – fern von Text und Sprache.
Sa, 8. Oktober, 20.15 Uhr; So, 9. Oktober, 19 Uhr, Lichthof-Theater
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