LeserInnenbriefe
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Hilfloser Journalismus

betr.: „Ich bin nicht gerne alleine“ (Frauke Petry),taz vom 8. 10. 16

Ich bin auch nicht gern alleine, Babys und Hunde fühlen sich bei mir auch wohl, auch ich mag meine Familie und kann Klavier spielen ... Aber was soll dieses harmlose Geplätscher über Frauke Petry?! Interessant wäre zum Beispiel gewesen, ihre brav-biedere Selbstsicht mit ihren politisch aggressiv-nationalistischen Ansichten zu verknüpfen und nachzufragen, wo da die Verbindungen/Brüche sind. Und wie jemand „tickt“, kriegt man halt auch nicht ohne eine Prise Analyse und Hinterfragen heraus. Eigentlich müsste ein Sozialpsychologe das ja können. Aber so? Und in der taz? Gern hätte ich in der dafür verantwortlichen Redaktionssitzung Mäuschen gespielt, um zu hören, ob über diesen Artikel überhaupt und, wenn ja, wie diskutiert worden ist. Mir ist nicht nur übel von diesem Text, sondern auch bei einem Journalismus, der vor locker-flockig und dazu noch piefig-eloquent erscheinenden rechtsradikalen Nationalistinnen hilflos zusammenbricht. Dass ich diesem Trend auch in der taz begegne, macht mir Angst. MARGRIT THIMME, Mülheim

Europäischer Pluralismus

betr.: „Wir Europäer sollten aufwachen“, taz vom 4. 10. 16

Claus Leggewie sagt, was die Generation der Nachkriegszeit in Deutschland neu bestimmt hat: Wir brauchen den europäischen Pluralismus und die soziale Gerechtigkeit inklusive Urbanität und Nachhaltigkeit. So wie das Tunix-Festival 1978 die Maßstäbe gesetzt hat, auch mit der Gründung der taz. Europa ist mehr als nur ein Zusammenschluss von Staaten verschiedener Kulturen, sondern eine Gemeinschaft, die gegen den fatalen Nationalismus neue Alternativen schafft. Früher hieß in Berlin der Vorgänger der Grünen: Alternative Liste. JOHANNES SPARK, Hannover

Vorbild Schweiz

betr.: „Wut auf die Herrschenden“, taz vom 8. 10. 16

In Ihrem Text scheint Bettina Gaus sich gegen Plebiszite zu wenden, weswegen ich mich nun doch genötigt fühle, eine Lanze für die direkte Demokratie „à la Suisse“ zu brechen: 1. Sie wird auf allen Ebenen durchgehend angewendet; 2. Bürgerinnen und Bürger werden in regelmäßigen Abständen zur Abstimmung gerufen; 3. können diese weiterhin selber Referenden und Initiativen auslösen. Diese drei Eigenschaften, so denke ich, haben den Effekt, die Bürgerinnen und Bürger als aktive PartizipatorInnen der Politik zu trainieren. Die Politik ist demnach in der Schweiz auch allgegenwärtig und wird von vielen „gemacht“ (oder eben, es wird daran partizipiert), wozu sicher auch die Milizhaftigkeit des schweizerischen Politsystems beiträgt.

An dieser Stelle will ich auch noch darauf hinweisen, dass Demokratie im ursprünglich verstandenen Sinn eben immer genau das gewesen ist: aktive Partizipation und Kontrolle durch die Bürgerschaft. Repräsentation ist hingegen das Prinzip der Republik und wurde erst ab dem 19. Jahrhundert mit Demokratie identifiziert. So betrachtet könnte man auch die Schweiz als die einzige real existierende westliche Demokratie bezeichnen – die restlichen Länder sind Republiken. Wenn wir also davon reden, dass wir mehr direkte Demokratie „wagen“ wollen, dann schlage ich vor, sich am Beispiel der Schweiz mit ihrer vielseitig politisch aktiven Bürgerschaft zu orientieren und nicht an den Plebisziten anderer Länder. CONRAD KRAUSCHE, Dortmund

Aufgabe für guten Journalismus

betr.: „Wut auf die Herrschenden“, taz vom 8. 10. 16

Liebe Frau Gaus, niemand will die Abschaffung der repräsentativen Demokratie. Aber unsere Gesellschaft braucht dringend mehr Partizipation, auch mehr direkte Entscheidungsmöglichkeiten. Gegen das angeführte Ungarn-Beispiel gäbe es viel zu sagen, ich belasse es mal bei der Frage: Bringen die parteiengefilterten Entscheidungsprozesse immer die besseren Ergebnisse? In der gleichen taz-Ausgabe lesen wir von den EU-geförderten Massentierhaltungsfabriken in der Ukraine. Wer entscheidet denn darüber? Sind das nicht sämtliche per repräsentative Demokratie gewählten Politiker*innen?

Es gibt viele Felder, wo die direkte Befragung der Bevölkerung ein dringend notwendiges Korrektiv zum bestehenden Politsystem wäre. Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Diskussion über eine Reform des über Jahrzehnten erstarrten System der Parteiendemokratie, die immer mehr reine Machtapparate geworden sind und immer weniger politisch gestalten – und wenn, dann im Sinne von Lobby-Einflüsterern. Mehr direkte plus eine reformierte repräsentative Demokratie wäre eine Form von Gewaltenteilung auf neuem Niveau.

Unterschätzen Sie nicht eine Mehrheitsgesellschaft, die den letzten Obrigkeitsstaat – damals noch mit alliierter Unterstützung – vor über 70 Jahren überwunden und sich seither in mehreren Etappen demokratisiert hat. So kompliziert sind die Sachverhalte oft nicht, wenn sie transparent vorliegen: eine dankbare Aufgabe für guten Journalismus. Dann sind die Leute gut in der Lage, auch neben Arbeit und Familie eine gesellschaftliche Entscheidung zu treffen. Aus lauter Angst vor ein bisschen Rechtspopulismus die Entwicklung von mehr politischer Mündigkeit in Deutschland und Europa abzuwürgen hieße, aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen. Wem das alles zu schwierig oder detailliert ist, kann sich ja eine Schlafmütze über den Kopf ziehen. Ich bin sicher: Die meisten Menschen wollen das nicht und können damit auch verantwortungsvoll umgehen. Etwas mehr demokratisches Selbstbewusstsein bitte!

HANS-PETER HUBERT, Berlin