Fotofestival: Subjektiver Blick durch die Linse
Der „European Month of Photography“ zeigt an 120 Orten ein breites Spektrum an historischer und zeitgenössischer Fotografie.
Ein nackter Hintern hebt die geordnete Welt aus den Angeln: Es waren die Rebellen ihrer Zeit, die der Fotograf Sebastian Mayer Anfang der 2000er Jahre ablichtete. Mit radikalen Posen stellten sie sich gegen eine Kommerzialisierung der Berliner Sub- und Popkultur. Seine Bilder zeigten all jenen den Stinkefinger, die eine Domestizierung des „arm, aber sexy“ Undergrounds im Sinn hatten.
Unter „Wild Wild Berlin“ präsentiert der Kunstraum Zwitschermaschine neben Mayer auch Fotografien von Miron Zownir und Eva Otaño. Alle drei beschwören eine Stadt und die Geister einer vergangenen Dekade – Künstler, Hausbesetzer, Hedonisten – jenseits einer saturierten Gesellschaft. Und doch generieren diese Bilder im Jetzt betrachtet fast utopische Zustände. Sie erinnern an ein nicht einmal so fernes Gestern mit Problemen, von denen ein globales, aus den Fugen geratenes Heute nur träumen kann. Das ist kein Manko, sondern offenbart, was Fotografie vermag.
Was „Wild Wild Berlin“ eindrucksvoll im Kleinen vor Augen führt, hat sich das Festival „European Month of Photography“ (EMOP) allgemein zum Ziel gesetzt. Die Zwitschermaschine ist nur einer von 120 Orten, die eine Fachjury auserkor und bestes Beispiel dafür, dass nicht nur die großen Namen unter den teilnehmenden Museen, Kulturinstituten, Galerien, Projekträumen, Botschaften und Fotoschulen mit Spannendem aufwarten.
Größtes Fotofestival Deutschlands
EMOP Berlin ist das größte Fotofestival Deutschlands. Trotz der 10.000 Bilder und der 130 Ausstellungsprojekte müsse sich aber niemand überfordert sehen, so Moritz van Dülmen, Geschäftsführer von der Kulturprojekte GmbH, einem Tochterunternehmen des Kultursenats, das sich neben dem EMOP etwa auch für die Art Week verantwortlich zeichnet. Vielmehr sollten gerade die Berliner das Angebot als „Appetizer“ verstehen. Tiefer in die Materie einsteigen lässt sich bei den Veranstaltungen rund ums Festival.
Schon zum Auftakt diskutierten Archivare, Publizisten und Medienexperten bei C/O Berlin im Amerika Haus heiße Themen. Zum Beispiel die Relevanz von professioneller Fotografie oder ihren Kunstanspruch in digitalen Zeiten, in denen Algorithmen und intensives Foto-Sharing den Takt vorgeben.
European Month of Photography Berlin, 29. 9.–31. 10., www.emop-berlin.eu
Zudem können beim experimentierfreudigen C/O Berlin gleich zwei Ausstellungen besucht werden. Im oberen Stockwerk hat gerade „Don’t Start With The Good Old Things But The Bad New Ones“ eröffnet. Da finden sich Bilder von Adam Broomberg & Oliver Chanarin, die Brutales und Zärtliches bannen, Folterinstrumente oder Liebende in der Verschmelzung und solche, die zunächst ganz harmlos anmuten: Ein kleiner Junge mit Kostüm und Maske, ein Mann hat ihm seine Hand auf die Schulter gelegt. Hier drängt sich die Frage auf: Wer steht in der Verantwortung?
Glück und Gewalt liegen auch bei „I am you“ nah beieinander. Chicago 1957: Zwei Polizisten in Zivil treten mit gezückten Pistolen eine Tür ein. San Diego 1959: Eine Dame in weißem Pelz steht lächelnd vor Eisbären. Beide Aufnahmen stammen von Gordon Parks, dem Chronisten des Kampfs für Gleichberechtigung der Afroamerikaner. Bevor er mit seinen Porträts etwa von Malcom X, Duke Ellington und Ingrid Bergmann und seinen Modestrecken für Conde Nast Geschichte schrieb, schlug Parks sich in Elendsvierteln unter anderem als Klavierspieler in einem Bordell durch.
„Der Blick des anderen“ als Motto
Auch die siebte EMOP-Berlin-Ausgabe will viel, nämlich einem Publikum das gesamte Spektrum an historischer und zeitgenössischer Fotografie bieten und europäisch zusammenzurücken: So macht das Festival auch in Athen, Bratislava, Luxemburg, Paris und Wien halt. Aktuelle Themen, wie die Flüchtlingskrise, greift es dabei nicht explizit auf. Aber das Motto, „Der Blick des anderen“, ist bewusst weit gefasst.
Das ermöglicht Ausstellungen wie die in der ifa Galerie. „Mit anderen Augen“ hat eine leise Kraft: Johannes Hail studierte als erster Äthiopier Fotografie in den Vereinigten Staaten. Während einer siebenwöchigen Reise durch Deutschland hielt er Schulkinder, Familien, Fabrik- und Landarbeiter in West- und Ostberlin, auf dem Münchner Oktoberfest oder vor den VW-Montagehallen von Wolfsburg fest. Denn 1962 hatte Hail von der deutschen Botschaft in Äthiopien den Auftrag erhalten, den industriellen Wiederaufbau der Nachkriegszeit in Deutschland zu dokumentieren.
Völlig losgelöst von Raum, Zeit und jeglichen Sorgen scheinen dagegen die Schauspieler und Sänger, wie Alain Delon und Mick Jagger oder Françoise Hardy, die Jean-Marie Périer in den 1960ern porträtierte. Das Institut français widmet dem „Fotografen des Glücks“ eine Retrospektive und überspitzt mit der Auswahl ein Zitat des Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano.
Der soll einst über die Aufnahmen seines Freundes gesagt haben, in ihnen sehe er nichts als „le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui“ („das Unberührte, das Lebendige und das Schöne heutigentags“). Und tatsächlich lassen sich an ihnen weder Spuren eines Gestern noch eines Morgen ablesen.
Gordon Parks hingegen sagte einmal, die Kamera habe er sich als Waffe gewählt. Ob sie nun als Kriegswerkzeug, Schutzschild oder bloß als Auge fungiert, der Blick durch die Linse ist ein subjektiver. Bilder haben Macht, ebenso ihre Produzenten. Das gilt auch auf dem privaten Territorium der Fotografie. Welches Bild soll die Zeiten überdauern? Der Mensch vergisst, das digitale Gedächtnis nicht.
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