Wo Schatten, da kein Licht

Die Sat.1-Serie „Bis in die Spitzen“ will dem Zuschauer Abgründe vor Augen führen, die hoffentlich singulär sind

Früher war Fernsehen so schön einfach: Neue Folge der Lieblingsserie eingeschaltet, es ging mal wieder drunter und drüber, und am Schluss war alles wieder so wie am Anfang, bis zur nächsten Folge. Heutzutage muss man sich als Zuschauer auf einiges gefasst machen: Die Guten werden plötzlich böse, die Bösen gut, irgendwie gibt es dieses beruhigende Gut und Böse überhaupt nicht mehr. Menschen tragen dunkle Geheimnisse mit sich herum, alles kommt ans Licht, aber nicht ganz, erst in der letzten Folge, vielleicht. Oder in der nächsten Staffel, möglicherweise. Und wehe, du verpasst auch nur eine einzige Episode, dann verstehst du kein Wort mehr. Das nimmt die Zuschauer gefangen, das ist nie langweilig, und das ist lebensnah, viel lebensnäher jedenfalls als das gute alte Status-quo-Prinzip, denn, hey!, haben wir nicht auch alle unsere finsteren Ecken in der Seele?

Heute Abend startet auf Sat.1 „Bis in die Spitzen“ (21.15 Uhr), mit dem Hochglanzprodukt will der Sender neue Serienkompetenz unter Beweis stellen, und das Rezept müsste eigentlich aufgehen: „Bis in die Spitzen“ ist ein Remake der in Großbritannien sehr erfolgreichen BBC-Serie „Cutting it“, die deutsche Version spielt im hippen Berlin, die Schauspieler sehen gut aus, außerdem geht es um Sex und Intrigen. Niki (Jeanette Hain) und Philipp (Tobias Oertel) führen seit zehn Jahren einen angesagten Friseursalon, er will Kinder, sie will expandieren. Gegenüber macht ein neuer Salon auf, und der Gatte der Betreiberin Mia (Muriel Baumeister) ist ausgerechnet Finn (Ralph Herforth) – die heiße Jugendliebe Nikis. Als sie damals schwanger wurde, hat er sie verlassen. Jetzt ist er wieder da – und er will sie zurück. Dazu gibt es jede Menge vergleichbar schicksalsschwangere Nebenhandlungen. Ausnahmslos jeder Charakter birgt und verbirgt seine eigene dunkle Seite (Anja Franke kann sich endgültig von ihrer Paraderolle als schnoddrige „Liebling Kreuzberg“-Senta befreien), es wird gelogen und geträumt und natürlich miteinander geschlafen. Eigentlich handelt die Serie von männlicher Untreue und weiblicher Lebensplanung.

Fast wie im richtigen Leben? Nun ja. Ab spätestens Folge drei verlässt „Bis in die Spitzen“ den Erfahrungshorizont eines jeden Zuschauers. Die Anhäufung von überqueren Sexbeziehungen (Beinahe Inzest! Angestellte sind plötzlich verwandt! Drei Schwestern und ein Mann!), das große Zaudern, Schweigen, Lebenslügen sind nur mit großem Engagement wohlwollend zu verfolgen. „Wir sehen Menschen in Situationen, die manchmal nur schwer zu ertragen sind, gerade weil man sich als Zuschauer darin selbst wiedererkennt“, sagte die Hauptdarstellerin Jeanette Hain in einem Promo-Interview. Einspruch! STEFAN KUZMANY