LeserInnenbriefe
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Wir zahlen die Zeche für die Krise

betr.: „Juncker schließt Nachverhandlungen aus“, taz v. 15. 9. 16

Ich mache mir so meine Gedanken. Wo nimmt dieser alte Mann aus Luxemburg sein Wissen her, dass es keiner Nachbesserung bei Ceta bedarf. Was aus den ganzen Plänen zur Vereinfachung des Welthandels geworden ist und was noch daraus wird, spürt doch jeder Normalo an seinem Geldbeutel. Wir zahlen die Zeche für die Wirtschaftskrise und noch kommende Krisen. Die Finanzindustrie fährt die Karre in den Dreck und der Bürger zahlt dies mit Nullzinsen. Die drei Cent, die er beim Geldwechseln spart bei einmal Urlaub im Jahr, ist zu vernachlässigen. Aber bei den Geldgeschäften rund um den Globus wird richtig Kohle gemacht. Es wird mit Fantasiearbeitsplätzen gelockt. Juncker redet von präzisen Verhandlungen. Hat er die Verträge gelesen? War er bei den Verhandlungen dabei? Gerhard Kampschulte,Stralsund

Identitätskrise der SPD

betr.: „Gabriel darf sich nicht drücken“, Interview mit der Bundesvorsitzenden der Jusos, taz vom 17./18. 9. 16

Die Argumentation von Johanna Uekermann führt noch nicht weit genug. Denn mit einem Ja zu Ceta würde die SPD auch das letzte Fünkchen Hoffnung begraben, über ein rot-rot-grünes Bündnis Angela Merkel als Kanzlerin abzulösen, da es dann kaum noch jemand im nächsten Bundestagswahlkampf der Partei ernsthaft abnehmen dürfte, wenn man gegen TTIP plädiert. Zudem bleibt das eigentlich Traurige vor allem der fehlende Mut der Führungsriege um Sigmar Gabriel, der sich insbesondere darin widerspiegelt, dass man anders als etwa die SPÖ in Österreich nicht offen über den erheblichen Machtzuwachs gerade für Großkonzerne durch die Verträge diskutiert. Daher steht das peinliche Taktieren leider ziemlich sinnbildlich für die große Identitätskrise der deutschen Sozialdemokratie, zumal man auch den „Nord-Süd-Dialog“ von Willy Brandt als faire Alternative zur Gestaltung der Globalisierung in seinem Denken komplett vergessen hat! Rasmus Ph. Helt, Hamburg

Sprössling seiner Gesellschaft

betr.: „Ist dieser Mann eine Gefahr für Europa?“, taz vom 17./18. 9. 16

Justin Trudeau, der Kanadier, ist weder für Europa noch für Deutschland eine Gefahr. Aber er ist ein Sprössling seiner Gesellschaft. Bei den zur Diskussion stehenden Verträgen TTIP und Ceta geht es nur vordergründig um Investitionsschutz zwischen vollindustrialisierten, stabilen Rechtsstaaten, in Wirklichkeit geht es um die Ausschaltung von Geschäftsrisiken, damit um die weitere Verfestigung des kapitalgesteuerten Wirtschaftssystems in alle Ewigkeit. Klaus Warzecha,Wiesbaden

Ausbilderin von Vorbildern

betr.: Wieder eine Bundeswehranzeige in der taz

„Offizieller Ausbilder von Vorbilder“! Mann: Das klingt toll! Das war ich übrigens auch als Mutter von zwei Söhnen und als Lehrerin! Ich kenne keine allgemeinbildende Schule, in der Schießunterricht erteilt wird. Ich bin per Gesetz zu Friedenserziehung verpflichtet und ich will kein Kanonenfutter großziehen. In meiner Herkunftfamilie stand eine pazifistische Erziehung ohne Kriegsdienst im Vordergrund! Meine Elternfamilie ist schwer kriegsgeschädigt! Physisch und vor allem psychisch!

Meine persönliche Erziehung war geprägt von Respekt anderen und Fremden gegenüber, und zwar aktiv, und nicht nur mit dem Mund! Unser Haus war offen, so wie mein Haus jetzt!

Auf was für Vorbilder setzt die Bundeswehr und die taz, wenn sie für den Dienst an der Waffe, also zum Töten erzieht! Nur wer schießen kann, schießt auch! Die taz verrät mit dieser Aufnahme von Bundeswehrwerbung ihre eigenen Ideale. In Anbetracht dessen, dass mein Geldbeutel durch Rente und Witwenschaft sehr geschmälert ist, kann ich mir auch eine andere Tageszeitung abonnieren, die genau so indifferent schreibt und Werbung aufnimmt wie die taz zurzeit. Charlotte Selig,Mühlenberge

Wenig Kulturverständnis

betr.: „Kein einfaches Vorhaben“, Interview mit dem Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, taz vom 16. 9. 16

Mit großer Bestürzung muss ich feststellen, wie wenig Tim Renner von Kultur versteht. Ein zentrales Beispiel: Christoph Schlingensief arbeitete erstmals 1993 für Frank Castorf und zum ersten Mal überhaupt für ein Theater. Hier begann sein Werdegang zu einer berühmten Persönlichkeit.

Chris Dercon ermöglichte Schlingensief seine erste große Ausstellung im Haus der Kunst im Jahre 2007. Da war Dercon noch nicht Chef der Tate. Was er dort, ab 2011, präsentierte, hatte mit dem Prater-Programm der Volksbühne, was eigene Akzente setzte, nun mal gar nichts zu tun. Wenn jemand Schlingensief in die Kunstwelt einführte, dann war das Klaus Biesenbach, der ihn bereits 1998 (!) zur ersten Berlin Biennale eingeladen hatte.

Ebenso wurde bereits an anderer Stelle in der Presse über den isländischen Künstler Ragnar Kjartansson, der in der Volksbühne seine erste Arbeit im Jahr 2007 präsentierte (die ich als Dramaturg, wie alle seine folgenden Arbeiten, begleitete), behauptet, Dercon habe diesen vorher entdeckt. Auch das stimmt nicht. Die erste Arbeit Kjartanssons für Dercon fand im Jahre 2013 statt.

Dercon oder Castorf hin oder her, das kann man bewerten wie man will und das sollen andere tun, da bin ich voreingenommen. Doch sollte man als Kulturpolitiker gekonnt mit Argumenten umgehen und keinen Etikettenschwindel betreiben.

Henning Nass, Berlin