Donuts und Nano-Autos
Nobelpreise Drei naturwissenschaftliche Sparten, sieben Nobelpreisträger. Über die Auserwählten in den Fächern Medizin, Physik und Chemie waren einige Wissenschaftler dann doch überrascht
Die Geheimnisse der Materie
Physikalische Forschung kratzt zuweilen an die Grenzen menschlicher Vorstellungskraft. Die theoretischen Entdeckungen topologischer Phasenübergänge und topologischer Phasen von Materie, die nun drei britischen Wissenschaftlern den diesjährigen Nobelpreis bescherten, gehört zweifellos dazu. Die Auszeichnung geht zur einen Hälfte an David Thouless, die andere Hälfte teilen sich Duncan Haldane und Michael Kosterlitz. Alle drei Wissenschaftler sind gebürtige Briten, leben und forschen aber seit Jahrzehnten in den USA.
Die Ergebnisse ihrer Forschung erzielten sie weniger in Laboratorien als am Schreibtisch. Mit mathematischen Formeln errechneten sie die Eigenschaften von Oberflächen. Dabei konnten sie Erklärungen dafür liefern, warum es neben den drei bekannten Aggregatzuständen, also fester, flüssiger und gasförmiger Materie, noch sogenannte exotische Formen gibt. Zum Beispiel können feste Materialien in extremer Kälte ohne Widerstand Strom leiten. Man nennt sie dann Supraleiter. Auch gibt es das Phänomen, dass es in sogenannten Supraflüssigkeiten keine Reibung mehr gibt. Spektakulär sind Videoaufnahmen von sehr kalten Flüssigkeiten, die entgegen der Schwerkraft am Rand ihres Behälters nach oben fließen.
Thouless, Haldane und Kosterlitz konnten mit ihrer Forschung bereits in den 1970er und 1980er Jahren anhand sogenannter topologischer Konzepte erklären, wie und warum extrem dünne Materialschichten von einem Zustand in den anderen wechseln und wieso das Auswirkungen auf deren Eigenschaften hat. Dabei half ihnen der Umstand, dass es mathematischen Formeln egal ist, wie groß der Körper ist, den sie berechnen. Salopp formuliert kann man mit dem gleichen Rechenweg die Eigenschaften eines Donuts und eines Rettungsrings berechnen. Das Loch des Donuts spielt dabei eine besondere Rolle. Denn bei der Topologie, einem besonderen Bereich der Mathematik, ist die Körperform letztlich unwichtig, entscheidend ist die Zahl der Löcher. So ähnelt, topologisch betrachtet, eine Tasse mit ihrem Henkel eher einem Donut als einem Becher ohne Henkel.
Die Entscheidung der Jury stieß in der Fachwelt auf Verwunderung. Der Direktor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, Rolf-Dieter Heuer, sagte unmittelbar nach der Bekanntgabe der Preisträger: „Das Komitee hat die Kraft zu überraschen.“ Henning Riechert vom Berliner Paul-Drude-Institut hofft, dass mit der Verbreitung von Supraleitern Energie eingespart werden kann. „Es geht aber bestimmt nicht um die Stromleitung von der Nordsee nach Bayern“, ergänzt Peter Fratzl vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Franzl sieht eher Anwendungen bei Quantencomputern, die variabler rechnen und mehr Informationen verarbeiten und speichern könnten. Tatsächlich wären Rechner mit bislang unvorstellbar großer Leistung durch neu zu entwickelnde Materialien durchaus denkbar. Im Vergleich dazu wären heutige marktübliche Computer simple Rechenmaschinen.
Mit Enttäuschung reagierte man indes an der Uni Hannover. Eigentlich hatte man fest damit gerechnet, bei den Nobelpreisen mit berücksichtigt zu werden. Schließlich war man bei dem Nachweis der Gravitationswellen, der weltweit Anfang des Jahres für Aufsehen sorgte, beteiligt gewesen. Allerdings konnten jene Forschungsergebnisse erst nach dem Stichtag zur Nominierung der Nobelpreis-Kandidaten veröffentlicht werden. So müssen sich die Forscher aus Niedersachsen noch mindestens ein Jahr gedulden. Der aktuelle Preisträger Thouless hatte diese Geduld. Vor Kurzem ist der emeritierte Professor 82 Jahre alt geworden. Lutz Debus
Müllabführ in den Zellen
Würde nicht ab und zu aufgeräumt, sähe es in menschlichen Zellen schnell chaotisch aus. Alsbald würden defekte Organellen wie Mitochondrien durch das zähflüssige Plasma wabern, pathogene Keime könnten ungehindert Schaden anrichten, falsch gefaltete Proteine ebenso – sie sind toxisch für Zellen. Damit Zellen überhaupt überlebensfähig sind und funktionieren, hat die Evolution ihnen darum einen Putzdienst organisiert. Der Aufräumprozess, bei dem die Zelle defekte Moleküle in blasenartige Gebilde einschließt, anschließend zerstört und recycelt heißt „Autophagie“.
Yoshinori Ohsumi, Zellbiologe am Institute of Technology in Tokio, hat wesentlich zum Verständnis, wie dieser Mechanismus gesteuert wird, beigetragen. Und weil Autophagie bei Infektionen, Alterungsprozessen und zahlreichen Krankheiten eine wichtige Rolle spielt, hat ihm das Nobel-Komitee dieses Jahr den Preis für Medizin verliehen.
Zwar hatten Forscher bereits in den 1960er Jahren das Prinzip entdeckt und beschrieben. Lange war jedoch unklar, wie bedeutend Autophagie für die Balance in der Zelle ist und wie sie überhaupt gelenkt wird.
Doch Ohsumi hat sich für den Putzdienst interessiert. In den 1990er Jahren züchtete er spezielle Hefezellen und deckte die Erbanlagen, die er ATG-Gene taufte, und die dazugehörigen Enzyme auf, die an dem mehrstufigen Prozess beteiligt sind.
„Brillante Experimente“ nannte das Nobel-Komitee diese Arbeiten. Schließlich ist die Autophagie ein laufender Prozess, beteiligte Transportvehikel sind sehr kurzlebig und konnten daher nur schwer beobachtet werden.
Dank Ohsumi weiß man heute: Rezeptormoleküle erkennen toxische Proteine, Viren oder defekte Organellen. Diese werden in Autophagosomen, doppelwandige Bläschen, eingesperrt und zum zelleigenen Wertstoffhof, den Lysosomen, transportiert. Dort zerlegen Enzyme die Proteinfragmente vollständig und machen sie unschädlich.
Der japanische Forscher fand auch heraus, dass homologe Gene, Gene also, die die gleichen Funktionen ausüben, auch im Menschen existieren. Ist der Aufräumdienst nicht am Werk, führt das zu Krankheiten wie Parkinson, Diabetes, Herzkrankheiten oder Krebs. So ist das Gen BECN1 auffällig häufig bei Brust- und Eierstockkrebs-Patientinnen mutiert. Es reguliert erste Schritte bei dem Aufräumprozess. Ohsumis Entdeckungen gelten darum auch als Grundlage, um mögliche Therapien zu entwickeln.
Ohsumi hat viele andere Wissenschaftler inspiriert. Und so ist die Autophagie heute einer der am intensivsten studierten Prozesse in der Biomedizin. Laut dem Nobel-Komitee gab es seit dem Jahr 2000 einen erheblichen Anstieg an Publikationen zu dem Thema.
Dabei sah es erst mal nicht so aus, als würde Ohsumi in der Forschung reüssieren. Denn nach seiner Promotion an der Universität in Tokio im Jahr 1974 fand er zuerst keine Stelle und war frustriert, wie er einmal in einem Interview sagte.
Sein Doktorvater vermittelte ihn schließlich für drei Jahre an die Rockefeller University in New York, wo er zuerst zum Thema „In-vitro-Fertilisation“ bei Mäusen forschte. Zurück in Japan, gründete er dann eine eigene Arbeitsgruppe, um sich mit der wenig beachteten Autophagie zu beschäftigen.
Vielleicht ist ja der etwas holprige Aufstieg der Grund dafür, dass Ohsumi bescheiden geblieben ist. Als er benachrichtigt wurde, soll er über die Auszeichnung aus Stockholm überrascht gewesen sein. Kollegen hatten dagegen den Nobelpreis für den Japaner schon länger erwartet. Kathrin Burger
Unsichtbare Autos und Fahrstühle
Der Nobelpreis für Chemie geht dieses Jahr an drei Molekülforscher, die Maschinen im Nanoformat entwickelt haben: Den Preis teilen sich der Franzose Jean-Pierre Sauvage, der gebürtige Brite James Fraser Stoddart und Bernard Feringa von der Universität Groningen in den Niederlanden. Die drei Forscher haben aus nur wenigen Molekülen unter anderem eine Art Fahrstuhl, künstliche Muskeln und ein Miniauto hergestellt.
Noch gehören diese Forschungsarbeiten zur Grundlagenforschung, doch künftig könnten die molekularen Maschinen für neue Materialien, Sensoren oder Energiespeicher verwendet werden, teilte die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mit. Die Preisträger seien in eine ganz neue Dimension der Chemie vorgedrungen, hieß es von den Juroren.
„Sie haben Moleküle entwickelt, deren Bewegungen man kontrollieren kann und die eine Aufgabe erfüllen, wenn sie die dafür nötige Energie bekommen.“
Durch diese Arbeiten seien andere Forscher inspiriert worden, darauf aufbauend weiterentwickelte Molekular-Maschinen zu bauen, darunter 2013 ein Roboter, der Aminosäuren ergreifen und verbinden kann. Für das menschliche Auge sind die künstlichen Maschinen unsichtbar. Sie sind über tausendmal kleiner als der Durchmesser eines Haares.
Den ersten Schritt machte der Franzose Jean-Pierre Sauvage, 71, an der Universität Straßburg im Jahr 1983: Er baute damals aus Molekülen zwei Ringe, die wie Kettenglieder zusammenhängen und sich wie diese locker bewegen können.
Auf diese Forschungsarbeiten aufbauend, entwickelte in den 1990er Jahren James Fraser Stoddart, 74, an der Northwestern University in Evanston, USA, molekulare Achsen und zugehörige Ringe, die darauf auf- und absteigen können – sogenannte Rotaxane.
Auf dieser Grundlage schufen er und sein Team winzige Aufzüge und künstliche Muskeln. Die Rotaxane nutzte Stoddart zudem, um Computerchips zu bauen, die zwar nur 20 Kilobyte speichern können, dafür aber viel kleiner sind als herkömmliche Chips. Einige Forscher glauben, dass diese Chips die Computerwelt einmal so revolutionieren könnten wie es einst die Transistoren taten.
Der Niederländer Bernard Feringa, 65, von der Universität Groningen baute schließlich als Erster einen molekularen Motor, der sich kontinuierlich in eine Richtung drehte. 2011 folgte sein „Nano-Auto“. Dazu montierten er und sein Team die Motoren als Antriebsräder an einen zentralen Träger. Das Fahrzeug sei nur rund einen Milliardstel Meter (Nanometer) lang, schrieben die Forscher im Wissenschaftsmagazin Nature. Es werde über die Spitze eines Rastertunnelmikroskops mit Strom versorgt und mit kurzen Spannungsimpulsen in Bewegung versetzt. Mit zehn Impulsen sei das Auto etwa sechs Nanometer weit über eine Kupferoberfläche gefahren.
„Die drei Nobelpreisträger haben dieses ganze Feld von molekularen Maschinen eröffnet“, sagte Nobel-Juror Olof Ramström. Damit habe eine „Revolution“ begonnen. „Die Entwicklungsstufe hier ist ähnlich der zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als viele Forscher zeigten, dass elektrische Maschinen möglich sein könnten. Die Zukunft wird zeigen, wie wir das hier anwenden können.“
Sauvage war völlig überrascht, als er von der Verleihung des Nobelpreises erfuhr. Dem französischen Sender iTele sagte er: „Es ist der prestigeträchtigste Preis, der Preis, von dem die meisten Wissenschaftler noch nicht einmal in ihren wildesten Träumen zu träumen wagen.“ wlf, dpa, ap