Berliner Szenen: Beim Zahnarzt
Klingt nach Askese
Ich konnte ihn nicht länger ignorieren, der obere hintere rechte Backenzahn musste raus. Seit etwa zwei Jahren stand der leicht wackelige Zahn unter Beobachtung meiner Zahnärztin, und ich hatte mir ihr ausgemacht, Bescheid zu geben, wenn ich meinte, er wäre nicht mehr zu halten. Als es so weit war, vereinbarte ich einen Termin.
Kaum lag ich in der Waagerechten, stellte die Zahnärztin, eine zupackende Blondine mit griechischen Wurzeln, eine Entzündung fest, die ich nicht bemerkt hatte. Daher wollte sie nicht ziehen, aber ich bestand darauf, denn noch einmal wollte ich mich nicht tagelang seelisch darauf vorbereiten müssen.
Die Zahnärztin erhöhte die Dosierung der Betäubungsspritze und befreite mich von dem Zahn. Nachdem sie die Wunde mit einem dicken Tupfer versehen hatte, gab sie mir ein Merkblatt: kein Kaffee, keine Zigaretten, kein heißes Essen die nächsten Tage. Das klang nach Askese.
Noch leicht benommen verließ ich die Praxis und stand auf der Seumestraße, die nach Johann Gottfried Seume benannt ist, einem Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert, der in Borna, wo ich geboren bin, die Lateinschule besuchte. Dieser Seume, das wusste ich schon, war sehr asketisch veranlagt. „Ich trinke keinen Wein, keinen Kaffee, keinen Liqueur“, ist von ihm überliefert, „rauche keinen Tabak und schnupfe keinen, esse die einfachsten Speisen und bin nie krank gewesen“.
So asketisch war ich nicht. Schon am zweiten Tag schmeckten die Zigaretten halbwegs wieder, und auch auf den Espresso am Morgen wollte ich nicht verzichten. Angst, dass das ein schlimmes Ende nehmen könnte, hatte ich nicht. Die Zahnärztin, die in der Nähe ihrer Praxis wohnt, hatte mir „für alle Fälle“ ihre Handynummer gegeben. Gebraucht habe ich sie nicht, aber es war ein gutes Gefühl. Barbara Bollwahn
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