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Berliner SzenenBei Edeka

Süßer Vogel Jugend

Sie hat ihr Leben im Griff. Sie weiß, wo sie hin will

Möglicherweise gibt es ja wirklich keinen besseren Ort als den Edeka-Markt in der Weichselstraße in Neukölln, um einem Kumpel über die neue Freundin vorzuschwärmen. So wie es der junge Mann tut, der an der Kasse vor mir steht. Mit Vollbart, im weißen Wifebeater, in Turner-Shorts und Flip-Flops als Tribut an die letzten Spätsommertage angetan, steht er – das Smartphone zwischen Ohr und Schulter gepresst – mit einer Flasche Saft in der Schlange und lässt die anderen Wartenden an seinem Liebesglück teilhaben.

Sie heißt Marcella, wenn ich das richtig verstanden habe, und hat „ihr Leben voll im Griff“. Sie weiß, wer sie ist, weiß, wo sie hin will, hat den Job, der im Augenblick am besten zu ihrem Lebensentwurf passt. Für Fragen, wie es weiter gehen soll, hat sie diesen Life Coach.

Und das beste ist, so erfahren alle, die mit ihm darauf warten, ihre Waren zu bezahlen: Sie steht sogar auf seinen Humor. Hier muss der jungeMann kichern, wohl weil ihm gerade einfällt, wie grenzwertig saukomisch er sein kann. Also, sie kann sogar über ihn lachen. „Du weißt ja selbst, wie ich manchmal drauf bin.“

Das junge Glück wird auch nicht dadurch getrübt, dass man sich langsam besser kennenlernt: „Jetzt habe ich auf YouTube dieses Interview mit ihr gefunden, das sie mal gegeben hat. Weißt ja, wie das ist, wenn man sich auf einen Partner richtig einlässt.“ Auch der im Netz geguckte TED-Auftritt der Geliebten ist langsam verdaut, „obwohl, das hat mich dann doch kurz eingeschüchtert. Ist jetzt aber o. k“.

Weitere Details bleiben den Wartenden an der Kasse verborgen. Denn unser frisch Verliebter hat endlich genug Kleingeld aus der Tasche seiner Shorts gefischt, um den Obstsaft zu bezahlen. Worauf er plaudernd durch die Automatiktür des Supermarkts entschwebt.

Tilman Baumgärtel

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