„Nicht von sich überzeugt“

BERLIN-WAHL Arbeitslose und Arbeiter sind in der Hauptstadt zur AfD gewechselt,weil die SPD nicht mehr weiß, was „sozialdemokratisch“ bedeutet, sagt Matthias Micus

Problemnichtlöser und Berliner regierender Bürgermeister Michael Müller (l.) mit SPD-Parteichef Sigmar Gabriel Foto: Sophia Kembowski/dpa

Interview Pascal Beucker

taz: Die SPD hat in Berlin so schlecht abgeschnitten wie seit 1920 nicht mehr. Warum?

Matthias Micus: Die Regierung hat insgesamt in Berlin nicht gut gearbeitet. Hinzu kommt, dass die SPD einen schwachen Spitzenkandidaten hatte. Als Nachfolger des als schillernder Partypolitiker verschrienen Klaus Wowereit war mit Michael Müllers Amtsantritt das Versprechen verbunden, dass er die großen Probleme der Stadt löst. Gerade das hat er jedoch nicht geschafft. Salopp gesprochen: Ein Problemlösungspolitiker, der Probleme nicht löst, bekommt Probleme.

Dann ist also Müller für das schlechte Abschneiden der SPD verantwortlich?

Das wäre zu einfach. Verantwortlich ist vielmehr ein Dreiklang: ein schwacher Kandidat, eine schlechte Regierungsbilanz und die generellen Profilprobleme der Sozialdemokratie. Letztere sind entscheidend, freilich nicht auf Berlin beschränkt. Das erklärt, weshalb die SPD selbst dann von der Beteiligung an Regierungen nicht mehr profitiert, wenn diese eine als mehrheitlich gut bewertete Arbeit leisten. Bis in ihre Spitze hinein wirkt die SPD aber weder von sich selbst überzeugt, noch scheint sie zu wissen, was „sozialdemokratisch“ im Kern eigentlich bedeutet.

Warum verliert die SPD besonders in jenen Klientelen, die früher als ihr klassisches Wählerpotenzial galten, also bei Arbeitern und Arbeitslosen?

Die Entfremdung zwischen sozialdemokratischen Parteien und ihrer alten Kernwählerschaft ist eine Folge nicht zuletzt der Politik des „Dritten Weges“, den Mitte der 1990er Jahre zunächst die britische Labour Party eingeschlagen hatte. Die Sozialdemokratie versteht sich seither nicht mehr als Interessenvertreterin der Modernisierungsverlierer des unteren gesellschaftlichen Drittels. Stattdessen orientiert sie auf die „Leistungsbereiten“, die hart arbeiten und Steuern zahlen. Auf die Spitze getrieben wurde dieses Verständnis mit der Agenda 2010. Seit diesem Zeitpunkt erleidet die SPD unter Arbeitern und Arbeitslosen tiefgreifende Verluste. Davon profitierten zunächst kurioserweise die Christdemokraten, Jürgen Rüttgers zum Beispiel, der sich 2005 in NRW zum „Arbeiterführer“ ausrufen konnte. Aber die CDU schaffte es auch nicht, diesen Wählersegmenten attraktive politische Angebote zu machen. In der Folge stieg deshalb der Nichtwähleranteil in diesen Gruppen.

Jetzt sind die zur AfD gezogen?

Durch das Aufkommen der AfD gibt es nun eine rechtspopulistische Partei, die sich zumindest rhetorisch der Sorgen, Probleme und Ängste dieser Gruppe annimmt.

Aber warum geht diese Klientel nach rechts statt links?

Der Eindruck, dass die Arbeiterschaft politisch links steht, ist in gewisser Weise immer schon ein Irrtum gewesen. Man muss da differenzieren: In ökonomischen Fragen ist die Arbeiterschaft traditionell und bis heute links. Kulturell waren Arbeiter, Arbeitslose und sozial Schwache dagegen immer schon eher national-konservativ, das heißt autoritär, homogenitätsfixiert, zuwanderungsfeindlich. Ende des 19. Jahrhunderts waren es die sogenannten Ruhrpolen, die enorm kritisch beäugt wurden, später Italiener oder Türken. Jetzt sind es Flüchtlinge und insbesondere Muslime.

Matthias Micus

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39 Jahre, ist Akademischer Rat am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Wie kann diese Klientel zurückgewonnen werden?

Linke Parteien müssen den Diskurs auf ökonomische Fragen konzentrieren. Dann können sie als Sachwalter der ökonomischen Interessen der sozial Schwächeren fungieren. Wenn aber in den unteren sozialen Milieus nicht Ökonomisches, sondern Kulturelles im Vordergrund steht, sind sie eine prädestinierte Wählerklientel für rechtspopulistische Parteien, die versprechen, kulturelle Homogenität zu bewahren.

Was folgt daraus für die SPD?

Nach jeder Wahl wird gesagt: Wir haben verstanden. Das reicht nicht. Mal an dieser, mal an jener Schraube zu drehen, führt zu nichts. Wenn die SPD wieder vorankommen will, braucht sie wieder eine sozialdemokratische Erzählung für die Partei. Einerseits. Andererseits braucht es eine parteiübergreifende Erzählung für ein linkes Bündnis. Ein solches Projekt muss allerdings ernsthaft gewollt und gründlich vorbereitet werden, es braucht eine Begründung und orientierende thematische Projekte. Ein Vorbild könnte das sozial-liberale Bündnis zwischen der SPD Willy Brandts und der FDP Walter Scheels darstellen, das in den frühen Jahren einen leidenschaftlichen gesellschaftlichen Aufbruch verkörperte.