„Als Kanzlerin wird sich Merkel als Moderatorin profilieren“

Warnfried Dettling, Vordenker der CDU in den 70er-Jahren, wertet trotz einer Kanzlerin Merkel die Sondierungsgespräche als „eine feindliche Übernahme der CDU“ durch die SPD

taz: Herr Dettling, Angela Merkel ist jetzt Kanzlerin – hat die Union also gewonnen?

Warnfried Dettling: Ja und nein. Immerhin gibt es einen Machtwechsel und erstmals eine Kanzlerin. Trotzdem: Die SPD hat hoch gepokert – und hoch gewonnen. Die Sondierungsgespräche waren so etwas wie eine feindliche Übernahme der CDU durch die SPD. Die Union hat weniger und sehr prosaische Ministerien. Die SPD hingegen kann sich mit Arbeit, Gesundheit und Finanzen bei den Gerechtigkeitsthemen profilieren.

Immerhin wird CSU-Chef Stoiber Wirtschaftsminister.

Für die beiden Verhandlungsführer Merkel und Stoiber waren die Sondierungsgespräche erfolgreich, ansonsten aber dürftig.

Ist es nicht ein Vorteil für die Union, dass die SPD sämtliche Ressorts besetzt, die mit Etatlöchern zu kämpfen haben?

Es sind aber gleichzeitig die Zukunftsthemen und die wichtigsten Ressorts. Es ist ein Fehler der CDU, dass sie ihr soziales Profil nicht deutlich machen kann.

Angela Merkel steht doch eher für neoliberale Konzepte.

Nach der Wahlniederlage muss die CDU ihr inhaltliches Profil dringend korrigieren. Sie muss wirtschaftliche Dynamik mit sozialer Gerechtigkeit konzeptionell verbinden.

Wie soll das mit Merkel funktionieren?

Als Kanzlerin wird sie sich als Präsidentin der Regierung und als Moderatorin profilieren. Sie hat von ihrem Vorgänger Helmut Kohl sehr viel gelernt – und der hat sich in Sachfragen immer herausgehalten.

Sie selbst beschrieben Merkel einst als „Überzeugungstäterin“. Die soll nun schweigen?

Es gibt zwei unterschiedliche Gesichter der Politikerin Merkel. 2000 bis 2003 hat sie programmatisch nicht geführt. Dann kam am 3. Oktober 2003 die große Reformrede, in der sie unter anderem die Gesundheitsprämie und ihre Steuerpläne vorgestellt hat. Jetzt werden wir wieder die Angela Merkel der frühen Jahre erleben. Allerdings als Kanzlerin – ein kleiner Unterschied.

Aber die Probleme drängen weit stärker als unter Kohl. Wie kann sie sich da heraushalten?

Trotzdem wird sich Angela Merkel vorerst stark zurückhalten müssen. Nach der Wahlniederlage muss sie ihre Autorität neu begründen. Das kann gelingen – wenn sie erste Vorhaben wie die Föderalismusreform durchbringt.

Bisher hat Merkel ihre Partei dominiert, indem sie lästige Konkurrenten ins Abseits manövriert hat. Wird sie auch als Kanzlerin so agieren?

Sie muss in der Regierung teamorientierter führen als bisher in der CDU. Es ist nicht eine ihrer Stärken, mit starken Personen kooperativ zusammenzuarbeiten. Aber nun braucht sie politische Schwergewichte wie Schäuble. Sonst wird es sehr einsam für sie am Kabinettstisch.

Und wenn Sie ihr noch einen Ratschlag geben dürfen?

In ihrer ersten Regierungserklärung darf sie nicht nur eine Addition der Maßnahmen präsentieren, die in der Koalitionsvereinbarung stehen. Sie muss neue Perspektiven entwickeln. Sonst ist die Enttäuschung bald ähnlich groß wie nach Schröder.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN