Wenig Lächeln, viel Arbeit

Große Koalitionen bedeuten große Kompromisse. Die zukünftige Kanzlerin Angela Merkel verkauft sie alle mit stoischer Ruhe

AUS BERLIN JENS KÖNIG
UND LUKAS WALLRAFF

An diesem 10. Oktober, in Berlin ein sonniger Oktobermontag, wird die Bundestagswahl mit einiger Verspätung endgültig beendet. Die Parteigremien von CDU und SPD, die im politischen Alltag einer Kanzlerdemokratie ja immer weniger zu sagen haben, dürfen an diesem Tag ausnahmsweise mal eine wichtige Rolle übernehmen. Den Präsidien und Vorständen der beiden Volksparteien ist es vorbehalten, das Wahlergebnis vom 18. September höchstoffiziell abzusegnen und somit endlich Einsicht zu zeigen in eine schwierige, aber dennoch unabänderliche Lage: Ja, Angela Merkel wird die erste Kanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ja, Gerhard Schröder wird sein Amt abgegeben müssen. Ja, das Land wird in Zukunft von einer großen Koalition regiert.

Warum diese Einsicht auf allen Seiten seine Zeit brauchte, kann man an diesem Tag ganz gut an den Gesichtern des politischen Spitzenpersonals dieser Republik ablesen: ernste Mienen, wo man auch hinblickt. Nur Gerhard Schröder lächelt, als er das SPD-Präsidium betritt. So sieht es eben aus, wenn zwei Wahlverlierer samt einem Exkanzler einen politischen Aufbruch organisieren sollen.

Und so passen diese angespannten Gesichter natürlich gut zu dem, was die Merkels, Stoibers, Schröders und Münteferings ihren eigenen Reihen zu verkaufen haben: teuer erkaufte Verhandlungserfolge. Große Koalitionen, das ist die erste Lehre dieser aufregenden Tage, bedeuten große Kompromisse. Angela Merkel verkauft sie alle mit stoischer Ruhe. Der erste Kompromiss besteht darin, dass Union und SPD im künftigen Kabinett gleich viele Stimmen haben. Acht zu acht. Eindeutig geklärt wurde nur der Chefposten. „Die Union besetzt das Kanzleramt“, kann Merkel endlich feststellen.

Merkel ist am Ziel. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Falls Merkel darüber innerlich triumphiert, merkt man es ihr nicht an. Die künftige Kanzlerin tritt auch an diesem Tag so auf, wie nach einer x-beliebigen CDU-Vorstandssitzung. Nüchtern, sachlich. Nur beiläufig flicht sie Sätze ein, die so etwas wie eine historische Bedeutung anklingen lassen: „Wir stehen mit dem heutigen Tag an einer entscheidenden Weggabelung“, sagt Merkel. Die deutschen Journalisten sind solcherlei Sätze gewohnt, nur einige ausländische Journalistinnen können so viel Trockenheit nicht fassen. Die Vertreterin der International Herald Tribune meldet sich: „Sie werden Kanzlerin, Frau Merkel! Wie geht es Ihnen?“ Merkels Antwort: „Erstens: Mir geht es gut. Zweitens: Ich glaube, dass sehr viel Arbeit vor mir liegt.“

Merkel bleibt bei ihrem Stil: nichts über die eigene Gefühlslage verraten. Auch schöne Worte für die große Koalition zu finden fällt ihr noch schwer. Was nun kommen soll, nennt sie eine „Koalition der neuen Möglichkeiten“. Kein Wunder: Mühsam ausgehandelte Kompromisse als Erfolge zu verkaufen – dafür war sie eigentlich nicht angetreten. Aber der Preis, den sie für ihre Kanzlerschaft bezahlen muss, ist hoch. Manchen in der Union zu hoch. In den wichtigsten Reformressorts Gesundheit, Arbeit und Finanzen werden weiterhin Sozialdemokraten das Sagen haben. Dass sich Stoiber das Wirtschaftsministerium gesichert hat, ist da kaum ein Trost – auch der CSU-Chef steht nicht für den Reformkurs, den Merkel durchsetzen wollte. Entsprechend unzufrieden sind einige in der Union. Sie finden auch problematisch, dass sich Merkel bereits schriftlich verpflichtet hat, die Steuerfreiheit für Schichtzuschläge nicht anzutasten und am Tarifrecht nicht zu rütteln. Roland Koch gibt sich wie immer seit der Wahl loyal. „Wer glaubt schon, wenn er einen Preis zu bezahlen hat, dass der angemessen ist?“

Franz Müntefering, der Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, ein Pragmatiker vor dem Herrn, ist geradezu prädestiniert dafür, sich auf solche neuen Situationen schnell und unkompliziert einzustellen. Vor der Presse verkündet er trocken und im Tonfall größter Selbstverständlichkeit, dass seine Partei ab sofort eine große Koalition anstrebe. Diese sei noch nicht unter Dach und Fach, mahnt er mit Blick auf die Unsicherheit in den eigenen Reihen, aber die SPD bemühe sich darum, eine „stabile Regierung für vier Jahre“ zu bilden, die eine „gute Politik für Deutschland“ mache. Die inhaltliche Grundlage dafür? Die vier bislang mit der Union vereinbarten Ziele einer solchen großen Koalition. Die bei den Spitzengesprächen von Union und SPD ausgehandelte Zuordnung der Ministerien? Seien bereits Ausdruck der Notwendigkeit, Kompromisse zu machen. Bei den Verhandlungen über den Zuschnitt der Regierung sei die SPD „ganz erfolgreich“ gewesen, habe aber weniger durchsetzen können als ursprünglich gewollt.

So verkauft der neue starke Mann der Sozialdemokratie den Abschied vom Traum einer nochmaligen Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Schröders Entscheidung sei im Vorstand „mit Respekt zur Kenntnis genommen worden“, sagt Müntefering, ohne dabei zu erklären, um welche Entscheidung es sich handelt. Schröder hat es im Präsidium, trotz des freundlichen Drängens mehrerer Spitzengenossen, abgelehnt, Außenminister und Vizekanzler in einer großen Koalition zu werden. Solche Meldungen sind jetzt nur noch Fußnoten in der sozialdemokratischen Parteigeschichte.

Die SPD hat Probleme genug, auch wenn es flügelübergreifend als Erfolg gewertet wird, dass der Union acht Ministerposten abgerungen und wichtige inhaltliche Fragen festgeklopft worden sind. Das ist auch der Grund dafür, dass es im Präsidium nur eine und im Vorstand zwei Gegenstimmen in Bezug auf den Verhandlungsvorschlag von Müntefering und Schröder gegeben hat. Aber schon die Enthaltung von Andrea Nahles im SPD-Präsidium deutet an, welche großen Bauchschmerzen die Parteilinken mit dem bisherigen Ergebnis haben: In den Parteigremien selbst ist über die personelle Besetzung aller Schlüsselpositionen kein einziges Wort gesprochen worden. So rätseln die meisten Genossen ebenso wie die Journalisten, ob Müntefering doch ins Kabinett eintritt und als Arbeitsminister gleichzeitig Vizekanzler wird oder ob nicht Peter Struck als möglicher Außenminister den wichtigen Job des Vizeregierungschefs übernimmt. Klar scheint nur zu sein, dass viele altgediente Minister wie Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe), Schmidt (Gesundheit) und Steinmeier (bislang Kanzleramtschef) erneut zum Zuge kommen werden. Vielen Parteilinken ist angesichts dieser Namen schon jetzt klar, dass da eine inhaltliche Erneuerung der SPD auf sich warten lassen wird. Die ersten sarkastischen Sprüche in der Partei über das Motto der großen Koalition sind schon da: „Erneuerung durch Zusammenbruch“.