Angela Merkel (CDU) ist die erste Kanzlerin in der Geschichte Deutschlands. Als Chefin einer Großen Koalition. Der Preis für die Kanzlerschaft: Im Kabinett Merkel gehen acht Ministerien an die SPD und nur sieben an die Union. Die Entscheidung um das Kanzleramt, das ungewisse Schicksal Gerhard Schröders: taz-Dossier SEITEN 3 bis 7

Das Machtspiel bleibt offen
: KOMMENTAR VON STEFAN REINECKE

Die gute Nachricht zuerst: Union und SPD haben sich rational auf das Nötige verständigt. Dies zeigt, dass diese Demokratie funktioniert: pragmatisch, unauffällig normal und viel effektiver als gemeinhin unterstellt. Viele Kommentatoren hatten nach der Wahl reflexhaft das Chaos an die Wand gemalt. Die Parteien hingegen waren klüger und taten, was möglich war.

Wer hat nun die Wahl vom 18. September gewonnen? Angela Merkel ist ganz oben angekommen. Wirklich? Die Pointe könnte sein, dass sie Kanzlerin wird, weil sie auf fast alles verzichtet, was sie politisch will. Es wird keine Kopfpauschale geben, keine radikale Steuerreform, keine weitere Ausfransung der Tarifautonomie, keine pro-US-Außenpolitik. Merkel wird als Kanzlerin die „Richtlinienkompetenz“ haben. Das klingt wolkig und ist es auch. So wird diese Große Koalition wohl eine Merkel-Regierung ohne Merkel-Politik sein. Das ist gut so. Denn erstens haben mehr als 51 Prozent gegen Merkel/Westerwelle votiert. Zudem kann die SPD, von links bedrängt, unter Merkel nichts Grundlegendes opfern. Diese Große Koalition wird also eher Schröders Kurs des gemäßigten Abbaus des Sozialstaates bei Erhalt des deutschen Konsensmodells fortführen. Vielleicht wird man sich sogar wundern, dass Wirtschaftsminister Stoiber etatistischer klingt als Clement.

Bekommen wir also Schröder-Politik ohne Schröder? Merkel als gefesselte Siegerin, der Verlierer als geheimer Sieger? Das wäre eine hübsche Pointe. Aber die Wirklichkeit ist anders, grauer. Denn hinter dem Schnappschuss von Schröder, der im letzten Moment seine Partei heroisch vor dem Abgrund rettete, erkennt man ein größeres, trübes Gemälde. Es zeigt eine in den Kommunen und Ländern entmachtete Partei, ohne Ideen und Personal. Dass Schily und Struck ernsthaft als Vizekanzler im Gespräch sind (und nächste Kanzlerkandidaten?), offenbart das Dilemma. Die SPD hat, nach zig verlorenen Landtagswahlen, kaum vorzeigbaren Nachwuchs und kaum eigene positive Ziele. Schröders one man show der letzten Wochen hat all das nur überblendet. Die SPD wirkt im Moment stärker als sie ist – und sie wird sich in der Großen Koalition neu erfinden müssen.