Klageflut soll abebben

HARTZ IV Seit 2005 sind beim Berliner Sozialgericht mehr als 160.000 Klagen gegen Hartz IV eingegangen. Nun wurden Maßnahmen vereinbart, um diese Flut einzudämmen

Oberstes Ziel sei, dass die Jobcenter kundenfreundlicher arbeiten

VON SEBASTIAN PUSCHNER

In Berlin soll es in Zukunft deutlich weniger Klagen gegen Hartz-IV-Bescheide geben. Das wollen Justizsenator Thomas Heilmann (CDU), die Präsidentinnen der betroffenen Sozialgerichte und der Chef der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, Dieter Wagon, mit gemeinsam vereinbarten Maßnahmen erreichen. „Unser Ziel für die nächsten beiden Jahre ist es, die Zahl der Klagen um ein Viertel zu reduzieren“, sagte Wagon. „Daran werden wir uns Ende 2014 messen lassen müssen.“

Seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze 2005 sind beim Sozialgericht Berlin, dem bundesweit größten seiner Art, mehr als 160.000 Klagen eingegangen. Sie richten sich gegen Verfügungen der Jobcenter, etwa zu Unterkunftskosten oder zur Anrechnung von Einkommen. Um die 42.000 noch offenen Fälle abzuarbeiten, müsste das Gericht ein ganzes Jahr lang schließen. „Wir halten zwar den Kopf über Wasser, sehnen das Ende der Klageflut aber herbei“, sagte die Präsidentin des Sozialgerichts Berlin, Sabine Schudoma. Sie rechne für 2012 mit insgesamt 29.000 neuen Verfahren; das würde dem Vorjahresniveau entsprechen.

Verständliche Bescheide

Damit künftig weniger Arbeitssuchende gegen die Jobcenter vor Gericht ziehen, hatten Senat, Justiz und Arbeitsagentur im Juni eine gemeinsame Projektgruppe eingerichtet, deren Ergebnisse die Beteiligten am Dienstag vorstellten. Oberstes Ziel ist demnach, dass die Jobcenter kundenfreundlicher arbeiten: Die zuständigen Sachbearbeiter sollen ihre Bescheide verständlicher gestalten und stärker mit den Adressaten zusammenarbeiten. „Die Mitarbeiter in den Jobcentern sollen möglichst mit den Leuten sprechen, bevor diese vor Gericht ziehen“, sagte Justizsenator Heilmann. Ebenso sollen Sozialverbände und Anwälte von Betroffenen frühzeitig einbezogen werden.

Der Senat selbst will seine Handlungsanweisungen, die den Bedarf an Unterkunft und Heizung betreffen, laufend ergänzen, um den Jobcentern mehr Rechtssicherheit für ihre Entscheidungen zu geben. Schon jetzt erleichtere die von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) in diesem Jahr überarbeitete Wohnaufwendungenverordnung (WAV) die Arbeit der RichterInnen, sagte Sozialgerichtspräsidentin Schudoma: „Der Senat hat seine Hausaufgaben gemacht, die Rechtsgrundlage ist besser geworden.“ Zuvor, bereits im Herbst 2010, hatte das Bundessozialgericht vom Senat eine Neuberechnung der Mietzuschüsse verlangt. Allerdings sind beim Berliner Landessozialgericht noch Klagen Betroffener gegen die neue WAV anhängig.

Kritik an den Plänen von Heilmann und Co. zur Senkung der Zahl von Hartz-IV-Klagen übte der sozialpolitische Sprecher der Piraten-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Alexander Spies: Die vorgestellten Maßnahmen seien „substanzlose Absichtserklärungen“. Der Senat versuche mit „Stellschräubchen“ ein System zu korrigieren, das abgeschafft gehöre. „Um die Klageflut tatsächlich einzudämmen, müssen auf Bundesebene die Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher abgeschafft und die Jobcenter mit genügend Mitarbeitern ausgestattet werden“, sagte Spies.

Lob kam hingegen von der Direktorin des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-Oberlausitz, Susanne Kahl-Passoth: „Wir fordern schon lange, die Bescheide verständlich zu formulieren und die Klienten in den Jobcentern ernst zu nehmen.“ Dazu müsse auch eine verbindliche Erreichbarkeit der Mitarbeitenden in den Jobcenter gewährleistet werden. „Fraglich bleibt jedoch“, sagte Kahl-Passoth, „wie diese Pläne mit der jetzigen Personalsituation in den Jobcentern umgesetzt werden sollen.“