ZEIT.ORTE

Helmut Höge, geb. 1947, schreibt seit 1980 für die taz u. a. Regionalrecherchen, über Wirtschaft und Naturkritik. Beim Verlag Peter Engstler ist außerdem seine zwölfbändige Reihe „Kleiner Brehm“ mit Texten zu Tieren erschienen. Für Elefantenbegeisterte sei an dieser Stelle noch das Elefantenbaden im Tierpark Berlin empfohlen, das von Oktober bis Ostern samstags und sonntags jeweils zwischen 11 und 12 Uhr stattfindet.

Wir schliefen auf Heuund wuschen uns nicht

Helmut Höge

To see the elephant“ war früher eine gebräuchliche amerikanische Redewendung, wenn jemand etwas Außergewöhnliches oder Großartiges gesehen hatte. Auch die ersten Elefanten, die ich als kleines Kind im Zirkus und im Zoo sah, haben mich schwer beeindruckt, noch mehr jedoch ein kleiner Elefant, den ich als Erwachsener traf. 1966/67 arbeitete ich im Bremer Tierpark des indischen Großtierhändlers George Munro – als Übersetzer und Aushilfstierpfleger. In dieser Zeit wurde die Ankunft eines neuen Elefanten angekündigt. Zum Tierpark gehörte ein Elefantenhaus, in dem bereits vier noch nicht ausgewachsene indische Elefanten untergebracht waren. Sie hatten auch noch ein Außengehege, nachts wurden sie von einem indischen Elefantenpfleger nebeneinander angekettet.

Der neue Elefant kam in einer Kiste auf einem Lastwagen an, um den sich eine Traube Menschen versammelt hatte – Journalisten, Besucher und Pfleger. Ich stand abseits und sah wegen der vielen Leute die Transportkiste nicht mehr, als sie vom Lastwagen auf die Erde gesetzt wurde, auch nicht den Elefanten, als man die Kiste öffnete. Merkwürdig – für ein so großes Tier. Plötzlich trompetete einer der Elefanten im Elefantenhaus. Der neu angekommene antwortete und lief schnaufend in seine Richtung, zwei Pfleger, die ihn mit dicken Tauen hielten, hinter sich herschleifend. Die Menschenmenge machte erschrocken Platz. Der Elefant war nicht viel größer als eine Dogge, aber sehr viel kompakter und kräftiger. Nachdem er sich im Elefantenhaus mit den vier anderen Elefanten bekannt gemacht hatte, gehörte er schon bald zu ihrer Gruppe, er wurde jedoch, weil er noch so klein war, nachts nicht angekettet. Ich hatte zuvor noch nie einen so kleinen Elefanten gesehen. Die Bremer Sparkasse spendete kurze Zeit darauf dem Tierpark eine riesige Palme. Sie wurde mit einer Geschenkplakette versehen feierlich im Elefantenhaus aufgestellt. Aber schon in der darauffolgenden Nacht hatte der kleine Elefant sie mit seinem Rüssel zu sich auf die Schlafplattform gezerrt und völlig zerfetzt. Das Gleiche passierte einige Wochen später mit einer freistehenden Voliere aus Kükendraht, in dem sich etwa 100 Webervögel befanden: Der kleine Elefant zerlegte sie ebenfalls in einer Nacht. Die Vögel flüchteten unter das hohe Dach des Elefantenhauses, es gelang uns nicht, sie wieder einzufangen. In den darauffolgenden Tagen fiel einer nach dem anderen vor Durst und Erschöpfung tot zu Boden. Ich war wütend auf den kleinen Elefanten, denn ich hatte die Voliere gebaut, deswegen stieg ich über die Abtrennung vom Publikumsbereich und haute ihm mit der flachen Hand auf den Hintern. Es hallte im ganzen Elefantenhaus. Der kleine Elefant lief erst zu den anderen großen, die angekettet waren, drehte sich dann aber um und rannte auf mich zu, der ich mich hinter eine Säule stellte, das nützte aber nichts, er verfolgte mich so lange, bis er mit seiner Stirn gegen meinen Hintern stieß. Daraus entwickelte sich in der darauffolgenden Zeit ein Spiel: Erst lief er weg, und ich versuchte ihm mit der Hand auf den Hintern zu hauen, sodass es laut klatschte, und dann lief er hinter mir her, um mich zu rammen.

Mister Munro, mein Chef, verkaufte dann einen der vier großen Elefanten nach Ostberlin – und ich sollte ihn dort hinbringen, das heißt zusammen mit einem der indischen Pfleger, Cholaf, in einem Güterwaggon begleiten. Munro machte öfter Geschäfte mit dem Osten. Sie liefen über Verrechnungseinheiten – so kostete ein indischer Elefant zum Beispiel zwei sibirische Tiger, die in Leipzig gezüchtet worden waren. Der Elefant ließ sich willig auf einen Lkw verladen und anschließend in einen auf dem Bremer Güterbahnhof stehenden geräumigen Waggon führen, wo man ihn ankettete. In einer Ecke wurde Heu und Stroh gestapelt. Wir gingen von einer etwa achtstündigen Fahrt aus. Erst kurz vor der Abfahrt erfuhr ich von einem Bahnbeamten, dass die Fahrt drei Tage dauern würde: Zu spät, ich hatte nur ein paar Schokoriegel zum Essen mit, Cholaf gar nichts. Der Chef drückte mir ein paar hundert Mark in die Hand – aber wo sollte ich die unterwegs ausgeben? Der Güterzug hielt alle paar Kilometer, weil er einen Personenzug vorbei lassen musste oder umgekoppelt wurde. Einige Waggons hängte man ab, andere wurden angekoppelt. Bei jedem Halt versuchte ich mit einem Eimer erst einmal frisches Wasser für den Elefanten zu besorgen, wobei ich ständig befürchten musste, unseren Waggon nicht mehr wiederzufinden – sie sahen für mich alle gleich aus und wurden ständig umrangiert. Cholaf blieb die ganze Zeit im Waggon, diese Arbeitsteilung hatte der Lokführer uns geraten, weil der Inder kein Deutsch oder Englisch sprach und falls er verloren gehen würde, schlecht wieder zurückfände. Noch schwieriger als das Wasserholen gestaltet sich das Essenbesorgen. Wenn der Lokführer und sein Assistent uns nicht mehrmals mit ihren von zu Hause mitgebrachten Butterbroten ausgeholfen hätten, wären wir fast verhungert.

Wir schliefen neben dem Elefanten auf Heu und wuschen uns die ganze Zeit nicht. An der DDR-Grenze wechselten die Zugführer. Bevor es weiterging, besuchten der neue uns erst einmal im Waggon, wo er die stoische Ruhe des Elefanten bewunderte. Dann lud er mich auf seine Lok ein. Beim nächsten Halt stieg ich zu ihm. Mit Cholaf konnte ich mich so gut wie gar nicht unterhalten und zu lesen hatte ich auch nichts mitgenommen. Der Lokomotivführer tauschte seine Zigaretten gegen meine. Er erzählte mir lustige DDR- und Reichsbahn-Geschichten, ich ihm traurige Tiergeschichten aus dem Zoo. Die Fahrt zehrte an meinen Nerven, außerdem stellte ich mir unsere Nahrungsmittelversorgung in der DDR noch schwieriger vor als im Westen, nicht einmal Ostgeld besaß ich. Der Lokomotivführer tauschte mir fünfzig DM zum „Freundschaftskurs“ von 1:1 ein.

Beim nächsten Rangierpunkt wurden drei Waggons mit Pferden an unseren Waggon gehängt. Es waren die letzten Arbeitspferde der LPGs, sie waren durch Traktoren ersetzt worden und nun ebenfalls für den Ostberliner Tierpark bestimmt – für die Raubtiere dort. Der Tierpark in Friedrichsfelde, so erfuhr ich, sei der flächenmäßig größte der Welt und das Raubtierhaus, die Alfred- Brehm-Halle, besonders üppig dimensioniert. Die etwa 60 Pferde, Maultiere und Esel wurden auf ihrer letzten Fahrt von einem alten Mann begleitet, der seine Tiere, die er zuvor überall in der DDR eingesammelt hatte, noch einmal ordentlich verwöhnte: Sie bekamen Hafer und Heu, so viel sie wollten, und standen buchstäblich bis zum Bauch im Stroh. Unsere Waggons sollten am Bahnhof Lichtenberg ankommen, von dort wollte man uns mit Lastwagen abholen.

Kurz vor Berlin gerieten wir jedoch bei einem neuerlichen Rangiergeschehen an die falsche Lok und fuhren in Richtung Norden. Erst kurz hinter Oranienburg hielt der Zug und es gelang mir, den Lokomotivführer von der Fehlzusammenstellung seines Zuges zu überzeugen. Beim nächsten Halt wurden Pferde und Elefanten abgekoppelt und wir mussten erneut endlos warten, wieder und wieder wurden wir umrangiert. Dem alten Pferdebegleiter war es egal: „So leben meine Tiere noch eine Weile länger”, meinte er. Schließlich setzte sich der Güterzug aber doch in Richtung Bahnhof Lichtenberg in Bewegung. Ich stieg bei dem bärtigen alten Mann in den Pferdewaggon. Weil er schon seit Jahren so unterwegs war, hatte er es weitaus gemütlicher als wir in unserem Elefantenwaggon. Außerdem war es bei den Pferden wärmer und roch besser. Er erzählte vor allem Pferdegeschichten – und bedauerte seine Pferde sehr, die Raubkatzen lehnte er dagegen ab: „Die gehören nicht hierher!” Außerdem hätten sie nicht so ein langes verdienstvolles Arbeitsleben wie die Pferde hinter sich, lägen bloß faul herum und langweilten sich zu Tode. Um sich mit dem Pferdeeinsammler unterhalten zu können, musste man hinter ihm herlaufen, weil er unentwegt damit beschäftigt war, irgendetwas für seine Tiere zu tun. Dabei redete er die ganze Zeit mit ihnen. Seine drei Waggons hatten elektrisches Licht, während es in unserem völlig dunkel war, sodass wir die Waggontür immer ein bisschen offen ließen, wodurch jedoch die Kälte hereinkam. Außerdem waren Cholaf und der Elefant so gut wie stumm. Manchmal machten sie den Eindruck, als hätte man gemei­nerweise zwei völlig unschuldige Inder auf den Weg nach Sibirien geschickt. Ich war mir fast sicher, dass die beiden ihr Schicksal inzwischen bedauerten. Cholaf wurde immer dunkelhäutiger im Gesicht und der Elefant immer blasser, fragend wiegte er seinen Kopf hin und her. Wir verstanden uns, konnten aber nur wenig mehr füreinander tun, als weiter höflich und freundlich zueinander zu sein.

In Lichtenberg wurden wir nicht mehr erwartet, als wir endlich nachts ankamen. Ich musste umständlich im Bahnhof jemanden bitten, beim Tierpark anzurufen. Aber dann ging alles wie der Blitz. Cholaf und ich wurden ins Gästehaus des Tierparks gebracht, wo wir uns erst einmal waschen und umziehen sollten. Anschließend wartete bereits ein Essen auf uns in einem der Tierpark-Restaurants. Dann zeigte man uns kurz das Gelände. Der Elefant war in der Zwischenzeit bereits in das Elefantenhaus gebracht worden, wo die anderen Tiere ihn aus einiger Entfernung in seiner Einzelbox aufgeregt begrüßten. Nachdem wir uns von ihm verabschiedet hatten, sanken Cholaf und ich todmüde in die frischen Betten des Gästehauses.

Als ich am nächsten Morgen den Elefanten sozusagen offiziell übergab – im Büro, bot uns die Tierparkleitung an, zwei Tage länger als geplant zu bleiben, damit wir uns erholen konnten. Für den Abend lud uns einer der Elefantenpfleger zu sich nach Hause ein. Er und seine Frau hatten eine kleine Party für uns organisiert – mit noch anderen Tierpflegern. Ich tanzte zu fortgeschrittener Stunden mit einer attraktiven Menschenaffen-Pflegerin auf dem Wohnzimmerteppich.

Nach dem Frühstück spazierten Cholaf und ich durch den Zoo und sahen dabei noch einmal nach unserem Elefanten: Er schien mit seinen neuen Mitgefangenen auszukommen und umgekehrt auch. Als wir ihn von der Zuschauerseite aus beobachteten, war gerade der Pfleger mit den Elefanten beschäftigt: Auch mit ihm schien sich unser Elefant abzufinden. Wenngleich er noch ein bisschen nervös wirkte. Ansonsten schien er diesen elenden Transport gut überstanden zu haben. Am nächsten Tag mussten wir wieder zurück nach Bremen fahren, diesmal in einem Personenzug.

Heute wird bei Elefantentransporten ein Riesenaufwand betrieben – mit Veterinärarzt, Beruhigungsspritzen, Spezialwaggons etc. Die Elefanten in den europäischen Zoos sind quasi ständig unterwegs. Besonders die männlichen, um die weiblichen in den vielen Zoos zu schwängern, die keinen der als gefährlich geltenden Bullen halten. Überhaupt bemüht man sich hier aus versicherungstechnischen Gründen um immer mehr Distanz zu den Tieren. Die bis heute im Ostberliner Tierpark praktizierte Elefantenhaltung nennt sich „Hands-on-Haltung“, also mit direktem Kontakt, die andere – zum Beispiel in Köln praktizierte – heißt „protected contact“ (pc). Dabei bleiben die Pfleger stets durch Schutzgitter vom Tier getrennt. Viele Zoomanager hoffen laut dem berühmten Zürcher Elefantenpfleger Ruedi Tanner, „dass mit dem geschützten Kontakt die selbstbewussten Elefantenpfleger durch ‚Einheitstierpfleger‘ ersetzt werden“ – für die die Arbeit mit Elefanten nur noch ein „Job“ ist – „mit Ferien und Feierabend“. Für den Schriftsteller John Berger ist der Zoo sowieso bereits Ausdruck der totalen Trennung zwischen Tieren und Menschen, schrieb er 2005 in seinem Aufsatz „Warum sehen wir Tiere an“.

In Indien ist der Umgang nicht nur mit Elefanten, mit denen gearbeitet wird, über die Jahrtausende sehr viel selbstverständlicher geworden. Und sowieso geht man dort quasi buddhistischer mit Tieren um. Deswegen fand George Munro, der neben dem Bremer Zoo noch eine Tierstation in Kalkutta besaß, auch nichts dabei, uns Unerfahrene (Cholaf war kein Elefantenpfleger und ich erst recht nicht) auf die Reise zu schicken – ohne Instruktionen und Proviant. Aber auch wir haben uns nichts dabei gedacht.