Anschwellender Blockwartsgesang

SCHLESIFrüher endete sie als Sackgasse am Landwehrkanal: Die Schlesische Straße war verwunschen, ab vom Schuss. Heute ist sie Partymeile – Touristen bescheren Anwohnern unruhige Nächte

Nicht die Schlesische, sondern die Falkensteinstraße, aber ähnlich lebhaft. So what? Foto: Fabian Zapatka/laif

von Uli Hannemann

Es ist ein Uhr morgens. Von der Grünanlage neben dem Haus dröhnt elektronische Musik zu uns nach oben in den vierten Stock. Na gut, dann machen wir eben das Schlafzimmerfenster zu. Draußen ist Sommer, drinnen ist es warm – wir bleiben trotzdem cool. Dit is eben unsa Ballin. Da steppt der Bär nach dem achten Bärenpils schon mal ein bisschen lauter, wa.

Halb zwei. Im Zimmer ist es heiß. Trotz geschlossenem Fenster ist es zu laut zum Schlafen. Inzwischen ertönt auch hinten auf der Brücke Musik. Ich stülpe mir das Kissen wie einen Sturzhelm über den Kopf und stelle mir vor, wie ein Streifenwagen nach dem anderen stumm staunend die öffentlichen Lärmquellen passiert. Ruhestörung ist offenbar kein Offizialdelikt. Ruft niemand bei der Polizei an, unternehmen die auch nichts.

Finde ich ja eigentlich gut. Schließlich sind wir nicht die Bösen. Also bürgerliche Edelwaldschrate, die, sobald nach 22 Uhr auch nur das zarte Stimmchen einer nachtwandernden Elfe ans empfindliche Ohr dringt, nach dem SEK brüllen.

Schwarz-grüne Dorfnazis

Wir sind nicht die Kneipentöter, die Clubkiller, die schwarz-grünen Dorfnazis. Von mir aus können die da draußen bis Mitternacht rumlärmen. Selbst danach würde ich nicht die Bullen rufen. Eine Frage muss trotzdem gestattet sein: Warum kann es immer nur das eine oder andere Extrem geben?

Zwei Uhr. Am Eingang zur Hochbahn spielt jetzt eine Rockband. Die Gitarre jault, der Bass puckert, das Schlagzeug scheppert. Dazu singt – gemäß meiner aus dem Kontext getroffenen Ferndiagnose – ein Arschloch. Das Arschloch singt laut. Eine hörbar wachsende Menge Schaulustiger jubelt dem Arschloch zu. Das Inferno tobt nun von allen Seiten. Mir wird klar, warum hier keiner die Bullen ruft. Mitten im Tsunami schreit auch niemand nach der Badeaufsicht.

Halb drei. Betrunkene grölen und werfen mit Flaschen, Glas splittert. Tatütata. Vier Live-Acts werben gleichzeitig um die Aufmerksamkeit eines entfesselten Mobs. Lautes Lachen, Hilferufe, Tatütata. Irgendwer göbelt mit dem Sound eines gepfählten Orks in einen Hauseingang, wahrscheinlich unseren. Wir sind allein mit unserer Verzweiflung und unserer Schlaflosigkeit. Das kann man ja alles niemandem erzählen. Da kämen eh bloß die üblichen Totschlagsprüche à la „Zieh doch nach Brandenburg“. Was man eben so sagt, wenn man jung ist. Und dumm. Und rücksichtslos und gemein, so gemein, brunzdumm und hundsgemein. Bin ich so nassgeschwitzt oder sind das alles meine Tränen?

Drei Uhr. Wir stehen todmüde auf dem Balkon und blicken ungläubig nach unten auf das brodelnde Meer aus zugedröhnten Feinden. Dabei heißt es doch: „Böse Menschen kennen keine Lieder“. In Wahrheit kennt niemand so viele Lieder wie die bösen Menschen. Kaiser Nero, Horst Wessel, Dieter Bohlen. Die Leute denken ja gern, klar, Krieg, Folter, Mieterhöhungen – so in etwa sehen sie aus, die Kernkompetenzen des bösen Menschen –, aber auf die naheliegendste kommen die meisten mal wieder nicht: Lieder. Es ist ein unendliches Repertoire, die meisten Texte handeln von Ruhestörung, Rücksichtslosigkeit und dem Wahnsinn lächerlicher Liebesprojektionen. Böse Menschen haben das Lied quasi erfunden.

Von mir aus können die da draußen gerne bis Mitternacht rumlärmen

Kurz verstummt die Musik

Halb vier. Jemand muss nun doch die Polizei gerufen haben. Eine Wanne hält an der Kreuzung, meine lieben Freunde, die wackeren Beamten – formerly fälschlich known as „Drecksbullen“ – steigen aus. Sie begeben sich zur U-Bahn-Combo, man sieht Taschenlampen leuchten, kurz verstummt die Musik. Dann gehen sie zurück auf die andere Straßenseite, wo mittlerweile die Wanne geparkt steht. Rotzfrech fängt die Band sofort wieder an zu spielen. Na, ich hoffe, die Wachtmeister holen bloß schnell ihre Waffen.

Als sie zurückkehren, bin ich enttäuscht. So weit ich erkennen kann, läuft da unten nur so ein windelweiches Deeskalationsgelaber. Wäre ich der Einsatzleiter, würde ich den Knüppel aber mal im Takt tanzen lassen und anschließend den Brei großzügig mit Pfefferspray nachwürzen. Das machen sie doch auch bei friedlichen Demos, am helllichten Tag und ohne Musik. Warum ist das ausgerechnet hier zu viel verlangt, wo endlich mal ein guter Grund vorliegt?

Ich würde sogar noch weiter gehen. Erst Warnschüsse über die Köpfe hinweg, und wenn noch immer keine Ruhe ist: die Bande einfach niedermähen. Die Köpfe der Rädelsführer abschlagen und oben auf Verkehrsschilder stecken, zur Abschreckung. Die Instrumente verbrennen, das Schlagzeug schreddern. Und natürlich auf die Reste draufscheißen, richtig gründlich draufscheißen, gähn, bin ich müde.