„Langfristig können wir mit mehr Protest rechnen“

Der Bewegungsforscher Dieter Rucht rechnet mit einem Erstarken des außerparlamentarischen Protestes, allerdings nicht gleich in der ersten Phase der großen Koalition. Unter Rot-Grün mussten Gewerkschaften fürchten, den Konservativen in die Hände zu spielen. Diese Angst falle nun weg

taz: Herr Rucht, es wird eine große Koalition regieren. Bedeutet das ein Erstarken der außerparlamentarischen Bewegungen?

Dieter Rucht: Im Prinzip ja …

oh nein, eine Radio-Eriwan-Antwort …

… lassen Sie mich einfach ausreden, es ist nicht so, dass ich keine Meinung dazu hätte. Die Bewegungen werden erstarken, aber nicht so schnell. In der jetzigen Phase werden sie eher abwarten und schauen, wer da eigentlich wen über den Tisch zieht. Längerfristig aber werden wir wieder mit mehr Protest zu rechnen haben.

Warum eigentlich? Schwarz-Rot ist doch für viele Protestler nichts weiter als die Fortsetzung der neoliberalen Koalition mit parlamentarischen Mitteln.

Unter Rot-Grün war die Kritik gebrochen, die Bewegungen hatten durchaus Angst, den Konservativen in die Hände zu spielen. Das galt auch für die Gewerkschaften, die jetzt viel freier sind. Sie müssen fürchten, dass diese Regierung noch weiter zur Verschlechterung in ihren Themengebieten beiträgt.

Was erwarten Sie jetzt von der außerparlamentarischen Bewegung?

Zunächst einmal wird die Schnittmenge zwischen der WASG beziehungsweise der neu zu bildenden Partei und den unabhängigen Gruppen größer werden. Bisher ist in der WASG zumeist die Funktionselite der Gewerkschaften zu finden, der eine breite Anbindung an das außerparlamentarische Spektrum noch fehlt. Die Grünen rutschen etwas nach links. Wie in Frankreich werden auch hier die Abstände zwischen den linken Protestgruppen, aber auch zwischen der außerparlamentarischen und der parlamentarischen Linken kleiner werden. Die Zeichen stehen auf mehr Zusammenarbeit. Das stärkt die linke außerparlamentarische Opposition. Allerdings ist auch ein Erstarken der rechtsextremen Bewegung zu fürchten.

Aber wahrscheinlich doch weniger in Berlin als in Sachsen, oder?

Ja, in Berlin haben es die Rechtsextremen schwer, weil die Linke so stark präsent ist.

Kommen auf Berlin größere Proteste zu?

In allen Hauptstädten gibt es generell das Phänomen, das auch Berlin ereilt hat und noch stärker ereilen wird. In den Hauptstädten haben Protestbewegungen die Chance, sich symbolisch mit den Machthabern auseinander zu setzen. Für Berlin gilt im Besonderen, dass die Linkspartei als Opposition und als Regierungspartei in einer Stadt sitzen. Das wird die Spannungen innerhalb der Berliner Linkspartei verstärken.

Haben Sie noch ein paar Tipps an die außerparlamentarische Bewegung? Wo sollte sie einhaken, was thematisieren?

Ach, ich gebe da ungern Ratschläge, da käme ich mir vor, wie ein alter Onkel. INTERVIEW: DAS