Brasilien Nach dem umstrittenen Machtwechsel droht der neue Präsident Michel Temer den Sozialstaat abzubauen
: Agenda der Ungleichheit

Michel Temer degradiert Sozialpolitik zum Charityprojekt seiner Frau Marcela Temer Foto: Cadu Gomes/ dpa

Aus Rio de Janeiro Andreas Behn

Brasilien am Tag eins nach der Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff: Ihr bisheriger Vize, Michel Temer, ist nun ihr Nachfolger. Die Zeitung O Globo titelt zum Machtwechsel: „Marcela Temer wird Sozialprogramm für arme Kinder repräsentieren.“

Die Botschaft ist unmissverständlich: Sozialpolitik wird unter der neuen Regierung von Michel Temer zum Charityprojekt seiner Frau Marcela Temer degradiert. Die ehemalige Schönheitskönigin, 42 Jahre jünger als ihr Ehemann, wird bald ein zweites Kind bekommen, für Michel Temer wird es das sechste sein. Das Programm, das neu geschaffen wird, heißt Criança ­Feliz (Glückliches Kind). Es soll den unzähligen Sozialmaßnahmen aus der Regierungszeit der Arbeiterpartei PT etwas entgegensetzen. In der Vergangenheit diffamierte die konservative Elite, zu der sich die Temers zählen, die Maßnahmen gern als „Wahlkampfgeschenke“. Nun lobt der neue Präsident seine Frau: „Sie sorgt sich sehr um die soziale Frage, sie wird hart arbeiten.“

Beim umstrittenen Machtwechsel, der von Kritikern auch als Putsch bezeichnet wird, geht es um weit mehr als eine Neuausrichtung der Sozialpolitik. Er kommt einem Epochenwechsel gleich: 13 Jahre Regierung der Arbeiterpartei PT sind nun Geschichte. Die Linksregierungen in Bolivien, Ecuador und Venezuela verurteilten die Amtsenthebung Rousseffs und riefen ihre Botschafter zurück. Dieser Schritt gilt als Vorstufe einer diplomatischen Eiszeit. Die kubanische Regierung nannte die Absetzung einen „richterlich-parlamentarischen Staatsstreich“.

Diejenigen, die die Amtsenthebung als Putsch bezeichnen, seien die eigentlichen Putschisten, polterte Temer nach seiner Vereidigung am Mittwoch. „Sie haben die Verfassung missachtet und die Wirtschaft ruiniert“, rechtfertigt er das Votum des Senats, der klar für die Absetzung Rousseffs gestimmt hatte.

Dilma Rousseff, die bereits seit Mai suspendiert war, gibt aber nicht auf. Rousseff, die die erste Frau an der Spitze Brasiliens war, hält den Vorwurf illegaler Haushaltstricks für einen Vorwand und nennt ihren früheren Vize Temer „Verräter und Usurpator“. Am Donnerstag reichte sie beim Obersten Gerichtshof Berufung gegen die Entscheidung ein. „Sie glauben, dass sie gewonnen haben. Doch sie irren“, sagte sie. Die Putschregierung müsse mit einer unermüdlichen Opposition rechnen.

Temer ist ähnlich unbeliebt wie Rousseff. Für die heftige Wirtschaftskrise in Brasilien wird die PT-Regierung verantwortlich gemacht, beim Thema Korruption haben beide, die Arbeiterpartei und Temers PMDB, einen miserablen Ruf. Nur wenige trauen Temer zu, der als wenig charismatisch, aber guter Strippenzieher gilt, die verkündete „neue Ära“ einzuleiten. Konstante Probleme wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Wachstumsschwäche stimmen wenig optimistisch.

Temers Aufgabe für die knapp zwei Jahre Restmandat ist klar. Er soll alle unpopulären Maßnahmen durchboxen, die seine konservativ-liberale Koalition für richtig hält – bei denen sie aber Kosten und Stimmenverluste befürchtet. Vorsorglich kündigte Temer an, er werde 2018 nicht kandidieren. Doch das kann er ohnehin nicht: Kürzlich sprach ihm ein Gericht wegen illegaler Wahlkampfspenden acht Jahre das Recht auf jegliche Kandidatur ab.

Bereits Mitte Mai, als er seine Übergangsregierung bildete, stellte er die Weichen für den Rechtsruck. Er präsentierte ein rein weißes Männerkabinett und schaffte die Ministerien für Kultur und Menschenrechte ab. Die angekündigte Sparpolitik kam aber nicht richtig in Gang, viele Klientelgruppen mussten zuerst mit großzügigen Abfindungen belohnt werden. Kommentatoren im Globo fordern bereits eine konsequente Ausgabenkürzung.

Die Pläne für den Umbau des Sozialstaats liegen in der Schublade. Das Rentensystem soll mit der Einführung eines Mindestalters reformiert werden. Für alle, die früher mit Erwerbsarbeit angefangen haben, würde das bedeuten, dass sie in Zukunft länger arbeiten müssten, um ihre Rente zu bekommen. Auch eine eventuelle Beitragserhöhung würde vor allem die Ärmeren treffen.

Das Arbeitsrecht, das unter der gewerkschaftsnahen Arbeiterpartei PT einem halbwegs sozialdemokratischen Standard angeglichen worden ist, will sich die neue Regierung auch vorknöpfen. Der Wirtschaftsminister dachte schon darüber nach, die Wochenarbeitszeit zu verlängern. Als sicher gilt, dass die von Industrieverbänden geforderte Flexibilisierung der Outsourcingregeln durchgesetzt wird. Der Boom sozialversicherter Jobs, der nach dem ersten Wahlsieg des Exgewerkschafters Lula da Silva im Jahr 2002 die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordtief drückte und zu Einkommenszuwächsen in allen Schichten führte, wird sich so bald nicht wiederholen.

Temer gilt als uncharismatisch, aber als guter Strippenzieher. Eine „neue Ära“ traut ihm kaum einer zu

Schluss mit Umverteilung

Mit Veränderungen in der Sozialpolitik soll das meiste Geld eingespart und zugleich die Umverteilungspolitik beendet werden. Per Verfassungszusatz will der Kongress die Ausgaben für Bildung und Gesundheit in den nächsten 20 Jahren einfrieren. Steigerungen sollen nur in Höhe der Vorjahresinflation erlaubt sein. Kritiker bezeichnen dies als Konservierung der extremen sozialen Ungleichheit in Brasilien. Sie fordern, zumindest die erwarteten Wachstumsraten in den Sozialbereich weiterzuleiten. Weitere Einschnitte sind beim sozialen Wohnungsbau, bei Universitätsstipendien und bei der Sozialhilfe geplant.

Das Credo „Weniger Staat, mehr Markt“ will das Wirtschaftsteam Temers vor allem mit Privatisierungen verwirklichen. Neben Infrastrukturprojekten geht es auch um den größten Konzern des Landes, das halbstaatliche Ölunternehmen Petrobras, das mit einem riesigen Korruptionsskandal als Ausgangspunkt der PT-Krise gilt. Der neue Petrobras-Chef Pedro Parente hat vor, einzelne Bereiche des Konzerns abzutrennen und dort mehr Privatkapital zuzulassen. Kritiker befürchten, dass die lukrativsten Teile verschleudert werden und der Staat auf den Problembereichen sitzen bleibt. Das war schon bei der Privatisierungswelle Ende der 1990er so, als Parente mehrere Ministerämter nacheinander bekleidete. Negativbeispiel ist der Telekommunikationsbereich: Handygespräche sind extrem teuer, Service und Netzgeschwindigkeit miserabel.

Temer und seine Unterstützer werden nicht die ganze Agenda durchsetzen können. Gewerkschaften und soziale Bewegungen kündigten Mobilisierungen gegen die neuen Machthaber an. Die fehlende Legitimität der Regierung Temer wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Statt Neuanfang stehen die Zeichen auf Konfrontation.