You say you wann’ a revolution

betr.: „Wir müssen reden“ von U. Porschardt, taz vom 30. 9. 05, „Ich will nicht reden müssen“ von M. Terkessidis, taz vom 8. 10. 05

„Wir müssen reden!“ Ulf Porschardts Imperativ konnte einem die Sprache verschlagen. Nicht so Mark Terkessidis mit seinem Titel „Ich will nicht reden müssen!“ und der darauf folgenden klugen Analyse.

Porschardt definiert in seinem Artikel zunächst links und rechts so um, dass die Frage der materiellen Voraussetzungen für menschenwürdiges Leben nicht mehr auftaucht. Wer heute noch den Erhalt der Sozialsysteme fordert, wird sprachlich so massiv angegangen, dass Zweifel an der vorgeblichen Dialogbereitschaft aufkommen. Abseits solcher Polemik stellen sich jedoch konkrete Fragen: Wer sorgt zum Beispiel dafür, dass auch Hartz-4-Empfänger Brillen bekommen? Der Lions Club? Die Bertelsmann-Stiftung? Oder nicht doch der Staat?

Nachdem er sich über die materiellen Inhalte linker Politik hinweggeschrieben hat, geht Porschardt einen Schritt weiter: Die linke Intelligenz solle sich an die Spitze der Bewegung stellen, die sie nicht aufhalten kann. Bewegung wird zum Selbstzweck: „Wer steht, hat Unrecht.“ „Bewegung“ kann aber auch durchaus totalitär werden, so zum Beispiel die nationalsozialistische. Rasen macht Spaß, zumindest, wenn man am Steuer sitzt. Wenn aber am Ende der Straße ein Abgrund auftaucht, kann es richtig sein, zu bremsen und sich zu fragen, ob die Richtung stimmt. Das nennt man Recht auf Widerstand.Und deshalb gibt es auch das Recht, nicht reden zu müssen. Und meine Dankbarkeit an alle, die davon reden und das Skript der Einschüchterung durchbrechen. FRIEDERIKE NEISEL, Bielefeld

„Linke“ Träume von einem guten Leben für alle, Vorstellungen von Glück in einer heterogenen Gemeinschaft, die gegenüber bestehender struktureller und repressiver Gewalt unverdrossen, schwungvoll, optimistisch verfochten wurden: ein reaktionärer Diskurs hat nicht nachgelassen in dem Versuch, sie zu denunzieren und zu zerreiben, nicht nachgelassen in dem Versuch, die Brisanz der potenziellen Breitenwirkung einer charismatischen Persönlichkeit wie etwa Rudi Dutschke zu „entschärfen“. Auch wenn nun Poschardt mit revolutionärem Gestus Schwung und Optimismus für sich reklamiert, setzt er genau diesen reaktionären Diskurs – unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – fort: indem er linke „Popkultur“ zeichenpolitisch „enteignet“, den Optimismus eines sozialistischen, demokratischen „we shall overcome“ von ebendieser seiner Wurzel abtrennt und in dandyhafter, quasi-futuristischer Manier einen „liberalen“ Individualismus als Facette des umfassenderen neoliberalen, elitären Projekts einer Entsolidarisierung propagiert.

Es ist insofern nur scheinbar paradox, dass Poschardt sich einerseits symbolisch vom „verstaubten“ Helmut Kohl distanziert (in dessen strukturkonservativer Tradition er die neue Linke verortet), andererseits die Möglichkeit, sich in seinem Sinne forciert zu äußern, nicht unwesentlich einer Kontinuität medialer Kräfteverhältnisse verdankt, an der sich seit der Ära Kohl wenig verändert hat. Die reflektierte Einschränkung „hinderlicher“ Bürokratie oder ein weniger verworrenes Steuersystem wünscht sich wohl jeder. Mehr „Eigenverantwortung“ und „weniger Staat“ mag ein „permanent revolutionäres Establishment“ als Forderungen für sich beanspruchen. Es handelt sich jedoch, wenn man „Eigenverantwortung“ nicht als Euphemismus für das Alleinlassen derjenigen ohne Lobby, sondern als kreative Gestaltung politischer Mündigkeit und „weniger Staat“ im Sinne von weniger „Obrigkeitshörigkeit“ versteht, tatsächlich um linke Positionen, wie sie etwa Peter Brückner in seiner Studie „Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären“ vertritt. Warum und vor allem wie Kapitalismus ohne quantitatives Wachstum funktionieren kann und können muss, erörtert beispielsweise der US-amerikanische Unternehmer Paul Hawken äußerst luzide in seinem Buch „Kollaps oder Kreislaufwirtschaft“.

Solange sich Poschardt und andere offensichtlich nicht gründlich mit dem auseinander setzen, was lange vor ihnen an „Radikalem“ gedacht wurde, und sich auf wohlfeile Selbstinszenierung kaprizieren, bedeutet die Forderung, „in Bewegung zu bleiben“, bedeutet das schwungvoll vorgetragene Postulat „weniger Staat“ letztlich wohl vor allem eins: weniger Demokratie. MAIK PLATZEN, Duisburg