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BerlinmusikEntropische Stimmen

Am Anfang war die Stimme. So lautet eine mögliche Erklärung der Entstehung von Musik. Bei Alessandro Bosetti jedenfalls bildet die menschliche Stimme das Grundmaterial für sein Schaffen. Der italienische Komponist und Performancekünstler, der von 2000 bis Anfang 2015 in Berlin lebte, schuf während dieser Zeit unter anderem fünf Hörspiele, die jetzt als Box erschienen sind. Man könnte sie genauso gut als großformatige Kompositionen bezeichnen: Die Grenze zwischen Musik und Hörstück verläuft bei Bosetti fließend, geht es ihm doch vor allem um die sprechende Stimme, weniger als Grundlage für Erzählung oder Dialog denn als Instrument, das Rhythmen und Polyfonien erzeugt.

Der Titel der Box, „Stille Post“, fasst Bosettis Ansatz denkbar knapp zusammen: In seiner Arbeit mit Stimmen interessiert ihn besonders ihre Eigenschaft als Medium, die immer an die technischen Bedingungen der Übertragung geknüpft ist. Wie das Weitergeben einer Botschaft im Flüsterton bei dem im Titel genannten Kinderspiel sind auch avancierte Sendemedien potenziell störanfällig, manipulierbar und liefern womöglich ein anderes Ergebnis als vom Sender beabsichtigt.

Das beginnt mit den einzelnen Verlautbarungen, die aus dem Sinnzusammenhang gerissen und zu streng arrangierten Stimmengeflechten zusammengesetzt werden. Die Ergebnisse klingen oft wie aufeinander reagierende Dialogpartner, obwohl die Inhalte in ihrer Folge völlig absurd wirken.

„Damals im Kindergarten lief das mit der Stillen Post aber deutlich einfacher ab“, so ein Satz in „Arcoparlante“ (sprechender Bogen), einer Art ironischem Selbstkommentar. Inspiriert ist das Stück von gesammelten Radiofragmenten, meist unverständlichen Dialogfetzen, um die herum Bosetti seine Sprecherparts organisierte. In „Arcoparlante“ kann man zudem eine weitere Strategie Bosettis kennenlernen: das mimetische Komponieren von Melodien nach dem Vorbild der Intonation gesprochener Sätze.

Dieses Verfahren verwendet Bosetti auch in „A Collection of Smiles“. Hier imitiert ein Quartett mit Bosetti am Klavier, dem Gitarristen Kenta Nagai, Geiger Johnny Chang und dem Bassklarinettisten Chris Heenan die teils gesprochenen, teils gelachten oder gekicherten Vorlagen. Und gesungen wird in diesen „Radio Works“ auch, etwa in den „Gesualdo Translations“, begleitet von Viola da Gamba, Cembalo und Gitarre. Entropisch schön. Tim Caspar Boehme

Alessandro Bosetti: „Stille Post. Radio Works: 2003–2011“ (Monotype), live 3. 9., Villa Elisabeth

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