Deutsche Fußball-Nationalmannschaft: Von hier an ohne Leitwolf
Wer soll neuer Kapitän der Fußball-Nationalelf werden? Die verbleibenden Spieler sind recht austauschbar – und das ist gut für den Bundestrainer.
Für Bastian Schweinsteiger erfüllte die Kapitänsbinde noch einen wichtigen Zweck: Sie war sein Ticket zur Europameisterschaft in Frankreich, eine politische Qualifikation für das kommende Turnier.
Denn sportlich war 2014 schon klar, dass der ewige Bayer bei der EM 2016 wohl verzichtbar sein würde. Spielte er doch auf einer Position im defensiven Mittelfeld, in der es keinen Mangel an (jüngeren) Alternativen gab. Sein FC Bayern machte das im Sommer 2015 deutlich, als der Klub, in dem Schweinsteiger seit 1998 aktiv war, den Spieler ohne großen Kampf zu Manchester United ziehen ließ.
Dennoch war Schweinsteiger anno 2014 die logische Wahl des Bundestrainers gewesen, zumindest wenn man die Nationalmannschaft als die Herrschaftsform versteht: als Gerontokratie, als Herrschaft der Alten. Schweinsteiger war neben Lukas Podolski der letzte aus der Generation 2004/2006, die die Nationalmannschaft aus dem Jahrtausendwendetal geführt hatte – bis zum Gipfel in Rio.
Den Ausblick von dort oben nutzten der bisherige Kapitän Philipp Lahm und Per Mertesacker zum Rückblick und Rücktritt, und auch die Ballacks, Frings und Schneiders hatten schon lange aufgehört. Blieb also nur Schweini fürs Kapitänsamt – die einfachste Wahl für Joachim Löw, und das Beste, was Schweinsteiger passieren konnte. Ein Geben und Nehmen, mit leichten Gewinnen für den Spieler.
Doch nun ist auch Schweinsteiger nicht mehr. Klar, er lebt noch, aber eben kaum noch auf dem Fußballplatz: Bei Manchester United ist er in die zweite Mannschaft degradiert worden. Und Joachim Löw sagte über den Nationalelf-Ausstieg nach der Euro: „Ein sehr, sehr guter Zeitpunkt zurückzutreten“. Klingt nicht danach, als seien ihm diesmal mehr Steine in den Weg gelegt worden als 2015 bei seinem Abgang aus München.
Ist halt gut jetzt.
Das Problem: Dieses Mal gibt es in der Gerontokratie Nationalmannschaft keinen letzten Mohikaner, der zwangsläufig zum Häuptling aufsteigt. Die Generation 2009 ist noch zahlreich vertreten: Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Benedikt Höwedes, Mats Hummels, Sami Khedira und Mesut Özil wurden damals U21-Europameister und stehen bis heute als feste Größen in Löws Kader.
Die Frage, die der Bundestrainer laut eigener Auskunft schon beantwortet hat, zu der er sich aber erst am Tag nach dem Testspiel gegen Finnland in Mönchengladbach (Mittwoch, 20.45 Uhr) öffentlich äußern möchte, lautet: Wen also wählen?
Kurze Antwort: Es ist egal.
Negativ betrachtet ist diese Egal-Antwort ein Zeichen dafür, dass die Spieler aus der 2009er-Generation – deren öffentliches Image bei Facebook, Instagram und Twitter und nicht mehr in der Bild kreiert wird – eh alle gleich sind. Oder vielleicht sind sich auch nur die Agenturen, die die Profile der Profis betreuen, zu ähnlich. Es ist ungefähr der gleiche Vorwurf, den sich auch die sogenannte Generation Y von ihrer ach so rebellischen Elterngeneration anhören muss: Ihr seid so angepasst, unpolitisch, ängstlich, wir waren damals draufgängerisch, verrückt, voller Tatendrang.
Jo, mach den Diaprojektor aus, Mama.
Positiv betrachtet ist diese Egal-Antwort ein Zeichen dafür, dass die Herrschaft der wenigen Alten mehr und mehr erodiert. Und das ist gut so. Löw selbst hat diese Entwicklung vorangetrieben: weg vom alles wegbeißenden Leitwolf – der dir zwar, wenn du unbedingt gegen Österreich gewinnen musst, den entscheidenden Freistoß zum 1:0 mit reiner Willenskraft reinballert – hin zum Kollektiv. Lasten verteilen, jeden in die Verantwortung nehmen, moderne Teamführung nennt man das wohl.
In dieser Entwicklung wird auch das Kapitänsamt zu einem vielmehr symbolischen Ämtchen. Wer glaubt schon, dass sich Neuers Reklamierarm anders hebt, wenn daran auch noch die Kapitänsbinde geklettet ist; oder dass Hummels anders abgeklärt Interviews gibt; oder Boateng anders die Leistungen des Teams kritisiert?
Und überhaupt, der wichtigste Unterschied zu 2014 ist, dass diesmal niemand der Kandidaten die Kapitänsbinde braucht, um seine Daseinsberechtigung im Team zu erhalten. Sportlich dürfte die „Ist eh egal“-Antwort auf die Kapitänsfrage den Bundestrainer also ruhig stimmen.
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