Gericht korrigiert Innenminister

GLEICHBEHANDLUNG Rückwirkend zu zahlende Sozialleistungen an Flüchtlinge müssen laut Sozialgericht in Bargeld ausgezahlt werden

„Göttingen traut sich nicht selbst, die Praxis aufzugeben“

SVEN ADAM, RECHTSANWALT

Asylbewerbern sind Sozialleistungs-Nachzahlungen nach dem Asylbewerber-Leistungsgesetz (AsylbLG) grundsätzlich in Geldleistungen auszuzahlen. Das hat am Mittwoch das Sozialgericht Hildesheim entschieden. Wenn einem Flüchtling die ihm zustehenden Leistungen vorenthalten worden seien, die ihm rückwirkend nicht mehr erbracht werden können, so Gerichtssprecher Michael Grese zur taz, „ist der Wertersatz nur in Bargeld möglich“.

Ausgangpunkt des Verfahrens, das eine Mutter von zwei Kindern aus Kuba über ihren Göttinger Anwalt Sven Adam angestrengt hatte, war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Juli dieses Jahres. Da hatten die Richter entschieden, dass Flüchtlingen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht weniger Sozialleistungen gezahlt werden dürfen als deutschen Hartz-IV-Empfängern. Das Verfassungsgericht ordnete eine Nachzahlung ab dem 1. Januar 2011 an.

Die Stadt Göttingen wollte diese Nachzahlungen aber außer einem kleinen Taschengeld lediglich in Versorgungsgutscheinen in Höhe von rund 500 Euro nachzahlen – die nur bis zum 31. Dezember 2012 gültig sind. Die Stadt begründete dieses Praxis damit, dass es eine Weisung von Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) gebe, so zu verfahren, um Flüchtlingen „keinen Anreiz zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise zum Verbleib zu verschaffen“, wie er sagte.

Das Sozialgericht hatte schon im Vorverfahren deutlich gemacht, dass Nachzahlungen von nunmehr rechtswidrig vorenthaltenen Zahlungen nur in Geldleistungen zu erbringen sind. Damit soll Betroffenen ermöglicht werden, wegen der Vorenthaltung von Leistungen entstandene Schulden zu tilgen, was nicht mit Wertgutscheinen, sondern nur durch Geldleistungen möglich sei.

In einem Parallelverfahren gegen die Stadt Göttingen setzte sich das Sozialgericht grundsätzlich mit dem Wertgutscheinsystem für Sozialhilfeleistungen auseinander, das in Niedersachsen praktiziert wird. „Die Stadt Göttingen bleibt bei ihrer politischen Auffassung, dass es aus humanitären, aber auch aus verwaltungstechnischen Gründen geboten wäre, auf die Ausgabe von Wertgutscheinen an Asylbewerber zu verzichten und Bargeld auszuzahlen,“ erklärte Göttingens Sozialdezernentin Dagmar Schlapeit-Beck (SPD). Das Land Niedersachsen verpflichte aber Städte und Gemeinden zur „diskriminierenden Ausgabe“ von Wertgutscheinen, so die Sozialdezernentin. Einen Antrag des Rates der Stadt Göttingen, die Haltung zu ändern und wie in den meisten Bundesländern die Sozialleistungen in Bargeld auszuzahlen, sei vom Innenministerium in Hannover verworfen worden. In dieser Grundsatzfrage ist jedoch noch keine Entscheidung gefallen. „Die Stadt Göttingen traut sich nicht selbst, die Praxis aufzugeben“, sagt Anwalt Sven Adam. „Göttingen möchte ein Urteil haben, dass es die Praxis aufgeben werden darf.“ KAI VON APPEN