Zehn Sterne für Olympia II

Hingucker II Sie sind vor Bürgerkrieg und Armut geflohen. Sie haben ihre Familien oft jahrelang nicht mehr gesehen. In Rio starten erstmals 10 Flüchtlinge unter der olympischen Flagge

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Yolande Mabika
: Die Judo-Meisterin

Der 10. August soll ihr Tag werden. Von den Vorkämpfen bis zum Finale sind es nur sieben Stunden. In diesem Zeitraum möchte Yolande Mabika der Welt zeigen, dass sie mehr ist als nur ein Flüchtling.

Aufgewachsen im Kongo, werden ihre Eltern während des Bürgerkriegs von Rebellen verschleppt; sie erinnert sich nur noch an einen Hubschrauber, der sie in die Hauptstadt der DR Kongo, Kinshasa, brachte. In einem Heim für vertriebene Kinder entdeckte sie Judo. 2013 während der Judo-WM in Rio floh sie aus dem Team der Judo-Nationalmannschaft. Ihr Trainer habe sie unfair behandelt, sie in Käfige gesteckt, ihr das Essen weggenommen. In Brasilien fängt sie ein neues Leben an, als Flüchtling. Der brasilianische Verband unterstützt sie und Flavio Conte, Judo-Medaillengewinner 2004 in Athen, trainiert sie. Yolande Mabika ist stolz auf sich. Aber am meisten wünscht sie sich, ihre Familien wiederzusehen. JLC

Rose Lokonyen
: Die 800-m-Spezialistin

Die 24-Jährige kann von Glück reden, dass die Tegla Loroupe Peace Foundation (TLPF) sich 2015 einen 10-km-Lauf im kenianischen Flüchtlingslager Kakuma anschaute. Rose Lokonyen wurde dann im Trainingscamp der TLPF aufgenommen und erreichte die Norm für die 800 m, ohne dabei an anderen Wettkämpfen teilzunehmen.

Rose floh im Alter von 10 Jahren mit ihrer Familie vom Sudan nach Kenia. Laufen war für sie damals noch keine wichtige Sache. „Wenn wir nicht aus dem Sudan geflohen wären, hätten wir sterben können“, sagt Lokonyen. 2008 haben sich ihre Eltern entschieden, alleine in den Sudan zurückzukehren. Gemeinsam bereitet sich ­Lokonyen jetzt mit der vielfachen Marathonsiegerin Tegla Lourope auf den 800-m-Lauf vor. Am Mittwoch beginnt für sie der Wettbewerb, wenn sie in einem von sechs Vorläufen starten wird. Ihr Traum ist nicht siegen, sondern „meiner Familie zu helfen“. JALC

Yusra Mardini
: Die Landesrekordlerin

Für sie geht es schon am Samstag los: Vorlauf über 100 Meter Schmetterling im Olympiapool von Rio de Janeiro. Ein großer Tag für die 18-Jährige aus Damaskus.

Sie floh gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah und anderen Verwandten im Sommer 2015 vor den Wirren des syrischen Bürgerkriegs auf der Balkanroute nach Berlin. Hier fand sie schnell den Weg zum Schwimmklub Wasserfreunde 04. Mardini hat schon 2012 mit 14 Jahren an den Kurzbahnweltmeisterschaften in Istanbul teilgenommen und dort einen syrischen Landesrekord über 400 m Freistil aufgestellt. Ihre Mutter und ihr Vater, ein Schwimmtrainer, folgten den Töchtern nach Deutschland. Yusra Mardini bekam von den Wasserfreunden ein Apartment, besucht die Poelchau-Oberschule, lernt Deutsch und immer wieder den Umgang mit der Weltpresse, die ihre spektakuläre Fluchtgeschichte samt Havarie vor Lesbos hören will. MV

Popole Misenga
: Der Judoka-Meister

Am Ende konnte er die Tränen nicht unterdrücken. Popole Misenga, 24 Jahre alt und Judoka, konnte bei einer Pressekonferenz für Rio die Trauer, seine Familie seit mehr als 15 Jahren nicht mehr gesehen zu haben, nicht unterdrücken.

Als 9-Jähriger vor dem Krieg in der DR Kongo geflohen, findet er seine Familie während der Flucht nicht mehr wieder und muss tagelang allein durch den Wald irren. Angekommen in einem Waisenhaus, beginnt er mit dem Judo. Misenga flüchtet einige Jahre später ein zweites Mal, während eines Aufenthalts der kongolesischen Judo-Auswahl in Brasilien. Er kämpft sich mit Gelegenheitsjobs durch, darf später als Asylbewerber seinen Sport ausüben.

Sein Hoffnung in Rio ist es nicht, einmal Usain Bolt die Hand zu schütteln. Er hofft, dass seine Familie ihm bei seinem Auftritt zusieht. Eines Tages will er ihr ein Flugticket nach Brasilien kaufen, damit er sie wiedersehen kann. JLC

Yonas Kinde
: Der Marathonläufer

Luxemburg statt Äthiopien heißt seit fünf Jahren seine neue Heimat. Das afrikanische Land war Yonas Kinde zu eng. Politische Gründe bewegten den Marathonläufer zur Flucht.

Er spricht ungern über die konkreten Umstände. Sie sind offensichtlich prekär – seit 2013 steht er unter internationalem Schutz. Er sagt: „Es ist sehr gefährlich für mich, in Äthiopien zu leben.“ Das Leben als Flüchtling fällt ihm zuweilen schwer, sagt er. Das Laufen gibt ihm Stärke. „Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, es ist eine unglaubliche Kraft“, erklärt er. Mit 36 Jahren hat Kinde den Zenit seiner Leistungsfähigkeit schon überschritten. Seine Bestzeit von 2:17,31 Stunden liegt deutlich unter der internationalen Norm von 2:19 Stunden. Seit seiner Nominierung hat er das Trainingspensum verdoppelt.

Bis zu seiner großen Olympia-Premiere muss er bis zum Schlusstag in Rio warten. Aber Kinde hat einen langen Atem. JOK

James NyANG Chiengjiek
: Der Ausdauerläufer

Sein Vater ist im sudanesischen Bürgerkrieg gefallen, als James Nyang Chiengjiek elf war. Chiengjiek ereilte dasselbe Schicksal, als ihn Rebellen abholen wollten, deshalb musste er fliehen. Mit 13 Jahren verließ er sein Heimatland und wurde im Flüchtlingscamp Kakuma untergebracht.

Die Region in und um Kakuma ist für seine Ausdauerläufer bekannt. In einer Schule des Flüchtlingscamps wurde Chiengjieks Lauftalent erkannt und ihm wurde mitgeteilt, dass er bei der Auswahl der Tegla Loroupe Peace Foundation mitmachen könne, einer Art Stiftung unter Aufsicht des Olympischen Komitees, mit dem Ziel, Sport als Integrationsmittel zu vermitteln. Wenn Chiengjiek in Rio über die 400 m an den Start gehen wird, hofft er, andere für den Sport zu begeistern. „Vielleicht sind unter den Flüchtlingen noch weitere Athleten, die bisher keine Möglichkeit gehabt haben, sich in Wettkämpfen zu beweisen. JLC

Anjelina Lohalith
: Mittelstreckenexpertin

Es ist nicht nur der sportliche Ehrgeiz, der sie antreibt. Anjelina Nadaj Lohalith will den Erfolg als 1.500-Meter-Läuferin bei den Olympischen Spielen vor allem aus einem Grund: ihre Eltern wiedersehen, die immer noch in ihrem Heimatland in armen Verhältnissen leben.

Lohalith wurde 1995 oder 1996 im heutigen Südsudan geboren. Als 2001 der blutige Bürgerkrieg ausbrach, musste sie fliehen – ohne ihre Eltern. Ein Jahr später kommt sie im Kakuma Refugee Camp in Kenia an, einem der größten Flüchtlingslager der Welt. Dort geht sie zur Schule und beginnt zu laufen. Erst macht es ihr einfach Spaß. Dann gewinnt sie reihenweise Wettbewerbe und wird nach Nairobi eingeladen, um von professionellen Coaches trainiert zu werden. Jetzt hofft die 21-Jährige auf eine Medaille in Rio.

In einem Interview sagt sie, sie wolle Geld verdienen, um für ihre Eltern ein neues Haus zu bauen. SNY

Rami Anis
: Der syrische Phelps

Er musste zwar von Syrien nach Belgien fliehen, aber der Schwimmer ist ein Patriot geblieben. „Ich trage Syrien im Herzen und möchte so schnell wie möglich wieder dorthin zurückkehren“, sagt der 25-Jährige aus Aleppo.

Aber jetzt ist nicht daran zu denken. In Aleppo tobt der Bürgerkrieg. In Rio geht Rami Anis über 100 Meter Freistil und 100 Meter Schmetterling an den Start. Anis flüchtete schon 2011 nach Istanbul, trainierte dort in der Schwimmabteilung von Galatasaray Istanbul, konnte aber nicht an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Er wagte im Vorjahr die Überfahrt in einem Schlauchboot nach Samos und landete schließlich beim Royal Ghent Swimming Club in Gent und wird dort von der ehemaligen Olympia-Schwimmerin Carine Verbauwen trainiert.

Anis selbst kommt aus einer Familie von Schwimmern. Sein Onkel Majad ging einst für die syrische Nationalmannschaft ins Wasser. MV

Paulo Amotun Lokoro
: Der mythische Läufer

Die Geschichte von Paulo Amotun Lokoro lässt sich schnell erzählen. Da lebte einer mit seiner Familie in einem konfliktbeladenen Gebiet, das heute zum Südsudan zählt. Lokoro musste woanders hin; die neue Heimat: ein Flüchtlingslager in Kenia. Lokoros Story lässt sich aber auch anders, mythischer, erzählen.

Der Mann war in seiner Heimat ein einfacher Viehhirte, der von der restlichen Welt, so sagt er, „überhaupt nichts kannte“. Viel mehr, als auf den familiären Tierbesitz aufzupassen, hatte er nicht gelernt. Bis er nach Kenia kam. Dort zeigte sich schnell, dass Lokoro ein zäher Typ ist, wie geschaffen für einen Läufer. Zwar fehlten ihm Laufschuhe – nach Nairobi, ins Trainingslager des kenianischen Profiläufers Tegla Loroupe, schaffte er es dennoch.

In Rio wird er über 1.500 Meter ­starten. Gerne würde er seiner Geschichte ein weiteres mythisches Kapitel hinzufügen. DJO

Yiech Pur Biel
: Der 800-m-Champion

800 Meter, das sind zwei Runden in jedem Leichtathletik-Stadion der Welt. Und egal, wo sie gelaufen werden, bereiten sie denjenigen, die sie zurücklegen müssen, unheimliche Qualen.

Yiech Pur Biel, der 2005 vor dem Bürgerkrieg im Sudan floh, geht dies genauso. Nur wird er die Qualen wahrscheinlich weit weniger spüren als seine Konkurrenten, „die ja echte Champions sind“, wie er sagt. Biel hat schließlich schon früh gelernt, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen. Er musste es nehmen, wie es kam. Und das ist in seinem Fall keine Floskel. Als Yiech Pur Biel 10 Jahre alt war, musste er fliehen. Weg von der Heimat, weg von seinen Eltern. Er hat sie seither nie wieder gesehen, die Heimat, die Eltern. Letztere ihn natürlich auch nicht, wenn sie denn überhaupt noch leben. Yiech Pur Biel vertraut auf Gott, er hofft, dass es ihnen gut geht.

Und die 800 Meter? Wird er als echter Champion meistern. DJO

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