Kuschs Verwahrvollzug unter Anklage

Mit dem Mord an Lebensmittelhändler Willi Dabelstein 1998 begann die Debatte um Geschlossene Heime. Der Täter steht jetzt erneut vor Gericht. Er soll kurz nach der Haftentlassung im April vier bewaffnete Raubüberfälle verübt haben

„Alle Maßnahmen des Strafvollzugs waren kontraproduktiv ausgelegt“: Verteidiger Zernisch

Es mag nicht verwundern, dass die Justizbehörde wenig Interesse hatte, dieses Verfahren an die große Glocke zu hängen: Mit Christian L., 23 sitzt ein Mann auf der Anklagebank, dem vierfache schwere räuberische Erpressung und Körperverletzung vorgeworfen wird, der schon als Jugendlicher straffällig geworden und 1998 letztlich als 16-Jähriger wegen Raubmordes an dem 73-jährigen Tonndorfer Lebensmittelhändler Willy Dabelstein zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt worden ist. Dieser Fall entfachte seinerzeit die heftige Diskussion um die Einführung geschlossener Heime in Hamburg.

Doch schon zu Prozessbeginn deutet sich an, dass dieses Verfahren zur Anklage gegen Justizsenator Roger Kuschs (CDU) Verwahrpolitik für jugendliche Straftäter ausufern könnte. „Mein Mandant ist sieben Jahre lang nur verwahrt worden“, klagt Verteidiger Elmer Zernisch an, „was passiert ist, war abzusehen.“ Denn nur eine Woche nach seiner Haftentlassung am 26. April 2005 schlug der bekanntermaßen zur Gewalt neigende L. wieder zu.

Laut Anklage soll er am 2. Mai gegen 20.25 Uhr am Hammer Marktplatz einen Mann überfallen und mit dem Messer in den Oberarm gestochen haben, um an seine Geldbörse zu kommen. Wenige Stunden später gegen ein Uhr nachts habe er in der Hirtenstraße einen anderen Mann mit dem Messer bedroht, um die Herausgabe der EC-Karte nebst PIN-Nummer zu erzwingen. Nachts darauf soll L. eine Frau um ein Uhr in der Lilienstraße mit dem Messer überfallen haben, um 15 Euro zu erbeuten, um schließlich morgens gegen 4.45 Uhr einen Jogger an der Außenalster zu attackieren, um diesem sein Handy zu entwenden. Dieser Vorfall wurde von einem Camper beobachtet, der die Alarmanlage seines Wohnmobils auslöste, so dass L. nach einer kurzen Fahndung durch Streifenwagen nahe des Tatorts festgenommen worden ist (taz berichtete).

Im Prozess schweigt Christian L. zu den Vorwürfen. „Ich möchte keine Aussage machen“, sagte der Kahlgeschorene gestern vor Gericht, so dass nun alle Opfer und Zeugen gehört werden müssen. Doch Anwalt Zernisch holte zugleich zum Gegenzug aus. Er beantragte, die Vollstreckungsrichterin, den Bewährungshelfer sowie L.s langjährigen haftbegleitenden Anwalt und den ebenfalls haftbegleitenden psychiatrischen Gutachter zu vernehmen. Alle haben seinen Angaben zufolge bereits seit Jahren die Justizbehörde mehrfach aufgefordert, L. auf seine Freilassung vorzubereiten.

Doch 2002 ist L. gegen das Votum des Gutachters aus der Jugendhaftanstalt Hahnöfersand in den Fuhlsbüttler Erwachsenenknast verlegt worden. „Dort hat ein Interesse an einer Resozialisierung nicht bestanden“, wirft Zernisch der Justizbehörde in seinem Beweisantrag vor. Es habe trotz mehrfacher Aufforderungen der benannten Fachpersonen keine „sachgerechte Vollzugsplanung“ oder „Maßnahmen zur Entlassungsvorbereitung“ gegeben. „Ein Interesse an einer Resozialisierung hat nicht bestanden“, beklagt Zernisch.

Alle Vollzugslockerungen seien abgelehnt worden, selbst begleitete Ausgänge zum Anti-Aggressionstraining, zur Wohnungssuche oder zu Bewerbungsgesprächen seien von der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel verwehrt worden. „Es ist alles in den Wind geschlagen worden“, so Zernisch. Kurzfristig sei seinem Mandanten im April „am Freitag mitgeteilt worden, dass er Dienstag entlassen“ werde, ohne jegliche Vorbereitung. „Alle Maßnahmen des Strafvollzugs waren kontraproduktiv ausgelegt“, klagt Zernisch weiter an, „damit die Justizbehörde in ihrer Auffassung Bestätigung findet, mein Mandant sei resozialisierungsresistent.“ Diese Auffassung hatte Kusch mehrfach öffentlich geäußert.

Diese Versäumnisse und Missstände wollte die Vollstreckungsrichterin im April nicht länger hinnehmen. Unterstützt vom psychiatrischen Gutachter ordnete sie die vorzeitige Haftentlassung an, unter Aufsicht einer Gerichtshilfe und mit der Auflage, dass sich L. einem Anti-Aggressionstraining unterziehe. O-Ton in dem Beschluss: „Der weitere Erwachsenenvollzug wird den Verurteilten – unter den gegebenen Umständen – nur negativ beeinflussen.“

Der Prozess wird fortgesetzt.Kai von Appen