Terroristen streiten über richtige Strategie

In einem angeblichen Schreiben tadelt al-Qaida ihren Statthalter im Irak. Kompromiss in Verfassungsfrage?

KAIRO taz ■ In den Rängen von al-Qaida ist möglicherweise ein Streit über die richtige Strategie im Irak ausgebrochen. Dafür spricht zumindest ein angeblicher Brief der Nummer zwei der Organisation, des Ägypters Aiman al-Sawahiri, an den Frontkämpfer al-Qaidas im Irak, Abu Musab al-Sarkawi. In dem Schriftstück, das nun in voller Länge vom US-Geheimdienst veröffentlicht wurde, kritisiert Sawahiri, der als der wichtigste Stratege des Terrornetzwerks gilt, vor allem die Angriffe auf schiitische Zivilisten im Irak. Das seien Taten, die von den muslimischen Massen nicht verstanden und akzeptiert würden. „Viele deiner muslimischen Bewunderer unter den einfachen Leuten fragen sich, was eure Angriffe auf die Schiiten erreichen sollen“, heißt es in dem Brief, der vom US-Geheimdienst als absolut authentisch eingestuft wird, dessen Echtheit aber weder von al-Qaida noch von einer unabhängigen Stelle bestätigt wurde.

Der Autor wirft Sarkawi vor, die Anschläge auf Schiiten stünden dem Ziel der Gründung eines islamischen Staates im Irak nach dem Abzug der US-Truppen entgegen. Zwar werden die Schiiten in dem Schreiben als Verräter bezeichnet, die mit den Amerikanern und der irakischen Regierung zusammenarbeiten, doch die Attentate auf Moscheen und schiitische Heiligtümer seien besonders kontraproduktiv. „Wir wollen nicht den gleichen Fehler begehen wie die Taliban in Afghanistan, die nur Studenten aus der Provinz Kandahar an der Macht beteiligt hatten“, heißt es weiter. Das habe dazu geführt, dass sich das afghanische Volk von ihnen distanziert habe und der islamische Staat bei der Invasion innerhalb weniger Tage gefallen sei.

Offensichtlich rechnet der Autor damit, schnell in die Bresche springen zu müssen. Infolge des US-Zusammenbruchs in Vietnam sei ein Vakuum entstanden. Man müsse im Irak auf ein ähnliches Szenario vorbereitet sein, „bevor uns die Ereignisse überrollen und wir von Verschwörungen der Amerikaner und der UNO überrascht werden, die dann an unserer statt das Vakuum füllen“.

Der Brief wurde angeblich bereits letzten Sommer entdeckt. Das Pentagon erwähnte den Brief bereits vergangene Woche, veröffentlichte aber nur drei Sätze des 6.000 Worte umfassenden Dokuments, in dem Sawahiri angeblich dazu aufruft, sich auf Anschläge auf US-Soldaten statt auf irakische Zivilisten zu konzentrieren und der Praxis des auf Video aufgezeichneten öffentlichen Köpfens Einhalt zu gebieten.

„Wir haben uns nun entschieden, den ganzen Text zu veröffentlichen, weil wir es für wichtig befunden habe, dass die US-Öffentlichkeit über die Absichten des Feindes aufgeklärt wird“, erklärt ein nicht namentlich genannter hoher Geheimdienstbeamter gegenüber der New York Times.

Bekannt ist indes auch nicht, ob Sarkawi das Schreiben je erhalten hat. Er hat zwar selbst in einem ihm zugeordneten Schreiben vom Jahresbeginn davon gesprochen, durch Angriffe auf Schiiten im Irak einen Bürgerkrieg anzetteln zu wollen, aber im September hat er in einem weiteren Schreiben den totalen Krieg gegen die Schiiten ausgerufen. Da war Sawahiris Schreiben bereits mehrere Wochen alt.

Unterdessen hat der irakische Verfassungsentwurf, über den am Samstag in einem Referendum abgestimmt werden soll, doch noch die Unterstützung eines Teiles der Sunniten erhalten. Vorausgegangen war eine Vereinbarung, wonach die Verfassung auch nach ihrem In-Kraft-Treten im Sinne der Sunniten modifiziert werden kann. Bisher hat das Gros der Sunniten den Verfassungsentwurf abgelehnt, weil sie besonders durch den dort festgeschriebenen Föderalismus Nachteile erwartet.

Der nun ausgehandelte Kompromiss sieht vor, dass die Verfassung im Frühjahr nach der Wahl eines neuen Parlaments noch einmal geprüft wird. Eine der größten politischen Sunniten-Gruppen, die Irakische Islamische Partei, will ihre Anhänger jetzt zu einem Ja-Votum aufrufen. Unklar ist aber, wie sich andere sunnitische Gruppen zu dem Kompromiss verhalten werden. Gestern Abend wollte das Parlament in einer Sondersitzung darüber abstimmen.

KARIM EL-GAWHARY