Bundesregierung verplappert sich

Türkei In einem offiziellen Dokument nennt das Innenministerium die Türkei eine „Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“. Diese Einschätzung war allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt

Nach dem Putschversuch in Istanbul: Anhänger von Präsident Erdoğan zeigen das R4bia-Symbol. Die vier erhobenen Finger sind ein Zeichen der ägyptischen Muslimbrüder Foto: Tolga Sezgin/NarPhotos/laif

aus Berlin Tobias Schulze

Das Büroversehen kostet Steffen Seibert am Mittwoch 1 Stunde, 2 Minuten und 36 Sekunden. Der Regierungssprecher sitzt am Nachmittag mit seinen Kollegen aus den Ministerien in der Bundespressekonferenz und muss erklären, was es mit der Türkei-Sache auf sich hat. Eigentlich kein komplizierter Fall, die Angelegenheit wäre in zwei Minuten erzählt, aber Seibert spielt heute mit verschärften Regeln: Was er zu sagen hat, muss er sagen, ohne es zu sagen.

Ist die Türkei im Syrien-Krieg noch Teil der Lösung oder schon Teil des Problems? „Die Frage bezieht sich auf Teile der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage, die vertraulich eingestuft ist. Insofern kann ich nicht Stellung nehmen.“

Steht die Regierung noch zu dieser Antwort ans Parlament? „Ich bin nicht in der Lage, mich über die Vertraulichkeit hinwegzusetzen.“

Stimmt die Bundeskanzlerin der Antwort zu? „Ich kann es nur wiederholen: Ich habe keine Beurteilung vorzunehmen.“

Am Ende, nach über einer Stunde und etlichen Ausflüchten, stehen unterm Strich zwei Erkenntnisse. Erstens: Ihre Aussage, die Türkei sei ein Hotspot für Islamisten, hat die Regierung nicht ganz so gemeint. Zweitens: Konsequenzen für Ankara zieht sie nicht in Erwägung – der Flüchtlingsdeal mit der Türkei bleibt bestehen.

Auslöser der Debatte war die Antwort des Innenministeriums auf eine Bundestags-Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen, in der es unter anderem um Verbindungen der türkischen Regierung zu Islamisten geht. Die Türkei habe sich ab 2011 „zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt“, schreibt das Ministerium. Und: Präsident Erdoğan und seine Partei hätten „zahlreichen Solidaritätsbekundungen und Unterstützungshandlungen“ für die ägyptischen Muslimbrüder und die israelische Hamas durchgeführt.

Nun ist für diese Informationen nicht die Expertise der Bundesregierung nötig. Wer regelmäßig Zeitung liest, hat all das schon gehört. Neu ist, dass die Regierung die Vorwürfe übernimmt, noch dazu in einem offiziellen Dokument. Mit der Türkei, wichtiger Partner in der Fluchtkrise und im Syrienkrieg, geht sie für gewöhnlich diplomatischer um.

Eigentlich hatte sie auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Das Ministerium hatte die entsprechenden Passagen in der Regierungsantwort als „Verschlusssache – Vertraulich“ eingestuft. Soll heißen: Regierungsmitarbeiter, Abgeordnete und geprüfte Angestellte dürfen das Dokument zwar lesen, aber nicht an die Öffentlichkeit geben. In diesem Fall ist irgendjemand über den Vermerk hinweggegangen, die Antwort landete am Dienstag bei der ARD.

Für gewöhnlich geht Berlin mit dem Partner Türkei diplomatischer um

Dass so etwas mit brisanten Informationen geschieht, ist nicht ungewöhnlich. Eigentlich verzichtet die Regierung deshalb auch in eingestuften Antworten auf heikle Aussagen. Dass nun eine relativ offene Einschätzung durchrutschte, schiebt das Innenministerium auf ein „Büroversehen“.

Das Ministerium hatte in der Angelegenheit die Federführung, das Auswärtige Amt und andere Ressorts arbeiteten zu. Die nun diskutierten Passagen kamen offenbar vom Bundesnachrichtendienst und gelangten über das Kanzleramt ans Innenministerium. Die übrigen Häuser hätten di­e fertige Antwort im Normalfall noch einmal kontrolliert und wohl diplomatisch entschärft. Ein Sachbearbeiter überging den Schritt aber und reichte das Dokument in der internen Hierarchie gleich hoch zu Staatssekretär Ole Schröder (CDU), der es arglos unterzeichnete.

Und so stecken Seibert und Co am Mittwoch im Dilemma: Die Türkei fordert eine Richtigstellung, die Opposition misst die Regierung aber an ihrer eigenen Aussage. Den Kompromiss formuliert auf dem Podium schließlich die Sprecherin des Auswärtigen Amtes: Die von den Medien berichteten Aussagen mache man sich „in dieser Pauschalität“ nicht zu eigen.

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