Schön undramatisch

FALSCHE PERFEKTION Die neuen Inszenierungen von „Fledermaus“ und „Lear“

Die Staatsoper lässt eine Tanztruppe zu Walzer und Polka aus Straussens Feder rappen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Genau 31 Jahre liegt die Uraufführung des „Lear“ zurück, der ersten großen Oper von Aribert Reimann, die seinen nachhaltigen Ruhm begründet hat. Tatsächlich ist Reimann, 1936 in Berlin geboren, einer der ganz wenigen lebenden Komponisten, denen es gelingt, mit den Mitteln der Avantgarde des vergangenen Jahrhunderts, mit serieller Mikrotonalität, die Kunstform der großen Oper zu füllen.

Seit der Uraufführung seiner Oper „Das Schloß“ (nach Kafka und Max Brod) 1972 an der Deutschen Oper gab es keine Gelegenheit mehr, seine überall gelobten Bühnenwerke auch hier kennen zu lernen. Nun endlich, nach 17 Jahren, hat sich die Komische Oper an ihn erinnert und Hans Neuenfels gebeten, noch einmal jenen „Lear“ zu inszenieren, den Harry Kupfer 1983 an diesem Haus, immerhin nur fünf Jahre nach der Münchner Uraufführung, in die damalige DDR importiert hatte.

Tödliche Frage

Auf dem Spielplan am Sonntag der Premiere stand also ein Rückblick in die jüngere Geschichte des Musiktheaters, der die Frage unabweisbar machte, was geblieben ist und die Zeit vielleicht überdauern wird. Für Shakespeares König Lear eine bekanntlich tödliche Frage.

Bei Reimann stellt er sie völlig unbegleitet auf einem Ton singend in den Raum. Sein Reich will er aufteilen unter seinen Töchtern, die ihm ihre Liebe erklären müssen, damit es seinen nahenden Tod überdauere. Auch Neuenfels lässt ihn mit diesem Wunsch alleine. Es gibt dieses Reich nicht, was übrig bleibt ist nur ein törichter alter Mann mit seinen bösen Töchtern, die ihn täuschen, und der einen Guten, die er verstößt. Zu sehen sind Bilder der kahlen menschlichen Existenz, ihrer Dummheit, Grausamkeit und Kierkegaard’schen Krankheit zum Tode, ausgestellt in kalten Innenräumen eines zeit- und geistlos modernen Designs.

Gewiss ist auch das enthalten in Shakespeare, das Problem ist nur, dass auch Reimann nicht mehr zu diesem Drama beisteuern konnte als die existenzielle Entblößung seiner Figuren. Sie sprechen sie aus in stets wohlgeformten melodischen Linien, grundiert von minutiös ausgearbeiteten Klangflächen aparter Dissonanz. Es ist eine Musik, die das Prädikat „schön“ in jeder Hinsicht verdient, aber um den Preis, dass sie dem Text beinahe jede Dramatik austreibt.

Reimanns (und Neuenfels’) Lear ist festgezurrt in den Tönen und im Rahmen der Bühne, die ihn und alle seine Nebenfiguren von Station zu Station ihres gemeinsamen Untergangs stolpern lassen, als hätten sie nie etwas anderes gewollt. Was also bleibt von Aribert Reimann 30 Jahre danach? Schöne Musik, sehr schön gespielt und gesungen von Ensemble und Orchester der Komischen Oper unter Carl St. Clair – wenig Shakespeare.

Und was bleibt von Johann Strauss und seiner Operette „Die Fledermaus“ 135 Jahre nach ihrer Uraufführung? Schöne Musik, sehr schön gespielt und gesungen von der Staatskapelle unter Zubin Metha an der Staatsoper – und wenig Operette. Das liegt nicht an Strauss, sondern am Ehrgeiz der Staatsoper, die nicht einfach Operette spielen will, sondern irgendetwas anderes, Größeres, Bedeutsameres. Das ist löblich, aber nicht lustig. Wer mag, kann im Programmbuch einen Aufsatz über die sozioökonomischen Zusammenhänge der Finanzkrisen von 1874 und 2009 lesen. Der Regisseur Christian Pade hat das wohl getan und die Affäre Eisenstein in ein Loft der neuen Berliner Mitte verlegt, der gerade die Bonuszahlungen abhanden gekommen sind. Überhaupt scheinen die Bühnenbildner zurzeit den Überdruss am Design ihrer Lieblingsklubs auf die Bühne zu stellen; es sieht schon ziemlich schrecklich nach reichem Pöbel aus in der Staatsoper. Und weil die Staatsoper es ernst meint mit der Aktualisierung, lässt sie auch noch eine fabelhafte Tanztruppe zu echtem Walzer und echter Polka aus Straussens Feder rappen. Das geht wunderbar und ist ein heißer Tipp für DJs.

Strauss eben! Es ist fast schon ein Operettenwitz, dass die Staatsoper auch noch Christine Schäfer engagiert hat, und zwar für die Nebenrolle des Stubenmädchens Adele. Christine Schäfer hat unter anderem auch mal bei Aribert Reimann studiert, deswegen wird bei ihr alles zur edelsten Kammermusik. Adeles Trällerliedchen „Spiel ich die Unschuld vom Lande“ klingt jetzt wie später Schubert. Vielleicht ist es das auch, nur möchte man es so gar nicht hören, denn selbst Christine Schäfer scheitert daran, dass Christian Pade vergessen hat, was man in der Operette niemals vergessen darf: Das durchaus Shakespeare’sche Gefühl der Vanitas, der Vergeblichkeit menschlichen Strebens, das melancholisch stimmt, aber auch schlampig macht. So herzergreifend falsch singen wie ein Wiener Stubenmädchen kann Christine Schäfer nun mal nicht.

■ „Die Fledermaus“: 27., 29. 11., 1. 12., Staatsoper; „Lear“: 27. 11., 5., 18. 12., Komische Oper