Abgrund Christina Olsen und Thue Rudgaard leben getrennt. Im August 2011 fährt er mit den gemeinsamen Töchtern für einen kurzen Urlaub nach Deutschland. Und bringt sie um
: Meine Mädchen

Manchmal fragt sie sich, was die Leute von ihr denken. Darf sie im Fitnessstudio zu lauter Musik ihre Übungen machen? Sollte sie zu Hause sitzen und weinen? Foto: Sigrid Nygaard

Aus Jütland Line Vaaben

An dem Tag im August 2011, an dem Thue Rud­gaard seine beiden Töchter aus dem Sommerurlaub zurückbringen soll, versucht Christina Olsen, ihn und die Mädchen anzurufen. Sie hat mit ihrem früheren Ehemann verabredet, dass sie Line und Marlene auf seinem Bauernhof abholt, aber sie steht vor einer verschlossenen Tür. Christina schaut durchs Fenster ins Haus, niemand da. Sie fährt wieder weg, sie ärgert sich. Zurück in Als, im Norden Jütlands, wo sie wohnt, irrt sie durchs Haus. Sie hat geplant, die Mädchen mit zu einem Filmfestival zu nehmen. Dann beschließt sie, alleine hinzufahren. „Ich will gerade aufbrechen, als es klingelt. Draußen steht ein Polizist.“

Der Mann ist groß. Sie merkt erst gar nicht, dass hinter ihm noch ein Polizist steht. Dann kommt noch einer. Und noch einer. „Können wir reinkommen?“, fragt der große Polizist. Sie setzen sich ins Wohnzimmer, und er fragt, ob sie wisse, wo ihre Töchter seien. Christina Olsen sagt, sie könne weder die beiden Mädchen noch Thue, ihren geschiedenen Mann, erreichen.

„Und dann erzählt er mir, dass außerhalb von Berlin ein ausgebranntes Auto gefunden wurde, Thues Auto. Mit den Leichen zweier Kinder auf dem Rücksitz. Er sitzt neben mir und hält meine Hand, während er das sagt. Ich nehme es auf, als stünde ich irgendwo neben mir, und ich denke: ‚Meine Kinder sind tot. Warum schreie ich nicht, warum wälze ich mich nicht auf dem Boden herum, wie es die Leute im Film machen?‘ Natürlich habe ich geweint, aber ich war sehr ruhig.“

Die Forensiker der Polizei finden einige Tage später Genmaterial, die Kinder auf dem Rücksitz sind Line und Marlene. Neun Monate dauert es, bis Thue Rud­gaard des Mordes für schuldig befunden wird. Doch Christina Olsen hat keinen Zweifel, vom ersten Moment an: „Die Polizisten sagten, es könnten vielleicht andere Kinder sein. Vielleicht sei es ein Unfall gewesen. Aber ich wusste, es sind meine Mädchen und er hat sie getötet.“

Warum ermorden Eltern ihre Kinder?

In vielen westlichen Ländern machen Kindsmorde zwischen acht bis zehn Prozent aller Tötungsverbrechen aus. Die Motive reichen von geistigen Erkrankungen über postnatale Depression bis zu finanziellen Problemen, Eifersucht oder Rache an einem früheren Partner. In Deutschland wurden im Jahr 2015 laut Statistik der Polizei 54 Kinder ermordet, 2014 waren es 55. Zählt man fahrlässige Tötung und Körperverletzung mit tödlichem Ausgang hinzu, dann kommt man auf 130 getötete Jungen und Mädchen im vergangenen Jahr. In neun von zehn Fällen, zeigen internationale Studien, werden Kindsmorde von einem Elternteil begangen. In den meisten Fällen ist der Vater der Täter, bei sehr kleinen Mädchen und Jungen ist es eher die Mutter. Kindsmorde kommen nicht häufig vor, aber sie hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck, weil sie so schwer nachvollziehbar zu sein scheinen. Sie fordern etwas Grundlegendes in uns heraus – die Vorstellung, dass es die erste Aufgabe von Eltern sei, ihre Kinder zu beschützen.

Christina Olsen ist heute 44 Jahre alt und lebt in demselben zweigeschossigen Backsteinhaus wie vor fünf Jahren. Sie arbeitet in einer Einrichtung für junge Straftäter, und in ihrer Freizeit ist sie Vorsitzende des örtlichen Turnvereins. Seit dem Tod ihrer Töchter fühlt sie eine Pflicht: „Kurz nachdem sie gestorben waren, hatte ich Angst, dass ich nie wieder der Welt ins Gesicht sehen könnte. Aber ich habe nie aufgegeben. Meine Töchter hätten das nicht gewollt. Und mein Vater sagte einmal zu mir: ‚Ich habe zwei Enkelkinder verloren, ich will nicht auch noch meine Tochter verlieren.‘“

Wie gut kennen wir den Menschen, den wir heiraten und mit dem wir Kinder haben?

Olsen denkt über die Frage nach. Dann sagt sie: „Ich bedauere es nicht, mit Thue Kinder bekommen zu haben. Ich frage mich auch nicht, warum ich ihn geheiratet habe. Wir hatten gute Zeiten zusammen. Wir waren glücklich.“

Christina Olsen und Thue Rudgaard sind beide 25 Jahre alt, als sie sich in Aalborg kennen lernen. Sie arbeitet als Labortechnikerin, er hatte gerade seine Ausbildung an einer Schule für ökologische Landwirtschaft abgeschlossen. „Mit Thue war alles immer ein wenig unberechenbar. Er war auf eine smarte Art witzig. Und wir führten lange und tiefe Gespräche“, sagt Christina.

Sie träumen davon, auf dem Land zu leben, im Jahr 1999 kaufen sie ein Bauernhaus in Øster Hurup in Nordjütland. Sie halten Rinder und Angoraziegen, sie haben einen Laden für landwirtschaftliche Produkte. Thue versucht, eine Gärtnerei aufzubauen, die er wieder verkaufen muss, sie wirft kein Geld ab. Eine Weile arbeitet er in einem Internat. Im Jahr 2000 heiraten sie. Ihre beiden Töchter, Marlene und Line, werden 2001 und 2002 geboren.

Thue Rudgaards Gemütsverfassung schwankt stark. Er hat Schwierigkeiten, morgens aufzustehen und den Überblick über die Rechnungen zu behalten. Mit 20 hat er zum ersten Mal eine Phase der Verzweiflung durchlebt, später wird ihm klar, dass es eine Depression war. Sein Arzt überweist ihn zu verschiedenen Psychologen und verschreibt ihm Antidepressiva. Aber Thue nimmt die Medikamente irgendwann nicht mehr und besucht seine Therapiesitzungen nur unregelmäßig.

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Kindsmorde gab es 2015 in Deutschland. In 76 Fällen starben Kinder an Misshandlung oder wurden Opfer fahrlässiger Tötung

Quelle: Bundeskriminalamt

Christina Olsen studiert und wird Lehrerin. Thue will denselben Weg einschlagen, gibt aber nach sechs Monaten auf. Ihre Ehe zeigt erste Risse. Sie sagt, seine Stimmungsschwankungen strapazieren ihre Beziehung. Er findet, sie schenke ihm nicht genug Beachtung. Er ist eifersüchtig und glaubt, Christina provoziere ihn, indem sie mit anderen flirtet. Im Frühling 2009 sagt sie, dass sie sich scheiden lassen will. Im Sommer zieht sie aus.

Kriminologen teilen Kinds­tötung in Kategorien ein: Der englische Begriff „Filicide“ steht für alle Fälle, in denen Eltern ihre Kinder umbringen, „Infanticide“ steht für Morde an Kindern unter einem Jahr und „Familicide“ wird für Fälle benutzt, in denen mehrere Familienmitglieder umgebracht werden oder in denen das Mordmotiv Rache an einem Partner ist.

Der typische Täter in einem solchen Familienmord ist ein weißer mittelalter Mann ohne Vorstrafen – häufig ein Mann, der explizit als Familienmensch gilt. Thue Rudgaard war so ein Mann. Freunde und Nachbarn beschrieben ihn als liebenden Vater und als engagierten Leiter einer Pfadfindergruppe.

Im Januar 2016 wird er vom Gefängnis in Potsdam nach Dänemark überführt. Dort soll er den Rest seiner Haftstrafe verbüßen. Ich schreibe ihm und frage, ob ich ihn besuchen könne. Nach einem Monat stimmt er zu.

Bevor ich den Besuchsraum betreten darf, wird mir mein Handy abgenommen und ich muss einen Metalldetektor passieren. Der Raum ist spartanisch eingerichtet, ein Tisch, eine Kaffeemaschine, eine Bank, ein Regal, in dem Spielzeug liegt. Thue Rudgaard trägt kurze Haare und einen Backenbart. Er ist nicht sonderlich groß. Etwas untersetzt. Die Haut auf seinem rechten Handrücken und seiner Stirn trägt Brandwunden.

Als wir uns im Februar 2016 zum ersten Mal treffen, wartet er gerade darauf, wie die dänische Justiz seine in Deutschland verhängte Strafe bewertet. Er hofft, die Dänen reduzieren die lebenslängliche Haft auf 14 oder 16 Jahre.

Thue Rudgaard liest viel, schaut Fernsehen, löst Sudokus. Er bleibt meistens für sich. Im dänischen Gefängnis bekommt er mehr Besuch als in Deutschland, aber das, sagt er, mache das Leben nicht einfacher: „Wenn du Besuch von draußen hast, erinnerst du dich, wo du bist. Hier drinnen kannst du beinahe vergessen, dass die Sonne scheint, dass die Vögel singen, und dass es da draußen Menschen gibt.“

Nach der Scheidung einigen sich Christine Olsen und Thue Rudgaard darauf, dass jeder von ihnen die Mädchen für jeweils sieben Tage zu sich nehmen wird. Über nahezu alles andere streiten sie. Christina sagt heute, Thue sei wütend und enttäuscht gewesen, weil sie ihn verlassen hatte. Er glaubt, sie habe das Zusammenleben sabotiert und ihn provoziert. Als sie einen neuen Freund hat, Mogens, wird die Stimmung zwischen ihnen schlechter. Thue hatte eine Zeit lang ebenfalls eine Freundin. Aber es fällt ihm schwer zu akzeptieren, dass ein anderer Mann mit für seine Kinder sorgt.

Anfang 2011 beschließt Thue Rudgaard, 170 Kilometer weit nach Süden zu ziehen, in eine Stadt namens Frederica, weil er hofft, dort leichter einen Job zu finden. Er will die Mädchen mitnehmen. Ohne Christinas Einverständnis meldet er sie von der Schule ab, und am 1. Mai zieht er um. Marlene besucht in Frederica eine neue Schule. Die jüngere Tochter, Line, will nicht mitkommen. Christina Olsen bringt den Fall vor Gericht. Eineinhalb Monate lang leben die Geschwister getrennt voneinander. Im Juni 2011 entscheiden die Richter in Aalborg, die Kinder sollen dauerhaft bei der Mutter wohnen.

„Thue gab auf und sagte, er werde zurückziehen. Wir könnten die Kinder wie zuvor abwechselnd aufnehmen, und ich meldete sie wieder an der alten Schule an. Ich war erleichtert“, sagt Christina Olsen.

Im Lauf des Sommers geht es Thue psychisch schlechter. Christina hat wieder geheiratet und ist in ein neues Haus gezogen, er ist arbeitslos und muss das Bauernhaus zum Verkauf anbieten, weil er seine Rechnungen nicht bezahlen kann. Manchmal droht er seiner früheren Ehefrau.

„Meine Kinder sind tot. Warum schreie ich nicht, warum wälze ich mich nicht auf dem Boden herum, wie es die Leute im Film machen?“

„Er sagte mir, ich solle aufpassen, hinter mich schauen und all so was. Ich hatte in dieser Zeit ernsthaft Angst vor ihm. Seine Wut richtete sich direkt auf mich, aber ich dachte keinen Moment daran, dass er den Kindern etwas antun könnte.“

Am Ende der Sommerferien wollte Thue die Kinder für ein paar Tage mit in einen Freizeitpark nehmen und sie zurückbringen, kurz bevor die Schule wieder anfangen würde. Sie war einverstanden. Am Mittwoch den 10. August fuhr er mit den Mädchen auf dem Rücksitz los.

Im Gefängnis erzählt Thue Rudgaard, was passiert ist, nachdem er Dänemark verlassen hatte: „Es war ein wirklich schlimmer Sommer, und der Trip war meine letzte Chance, ein wenig Urlaub mit den beiden Mädchen zu machen“, sagt er.

Er hat vom Snow Dome im niedersächsischen Bispingen gehört, einer Skihalle, und seine Töchter finden, Skifahren im Sommer, das klinge doch gut. Sie verbringen einen Tag in der Halle und gehen erst, als sie abends schließt.

„Ich unterhielt mich mit den Mädchen über Deutschland und hatte das dringende Bedürfnis, ihnen die Berliner Mauer zu zeigen. Aber das ging nicht, ich musste sie ja am nächsten Morgen wieder zurück nach Hause bringen. Dann dachte ich: ‚Wenn ich meinen Töchtern Berlin zeigen will, dann tue ich das.‘“

Er fährt also los, denkt aber irgendwann, dass er damit alles noch schlimmer macht. „Ich hatte Angst, Christina würde die Mädchen nicht noch einmal mit mir wegfahren lassen, wenn ich sie nicht zum verabredeten Zeitpunkt zurückbrachte. Aber nun war es eh schon zu spät. Ich dachte, es sei eh alles sinnlos. Von da an setzte sich langsam die Idee durch.“

Die Mädchen streiten auf der Rückbank. Thue Rudgaard gibt jeder eine Schlaftablette, die er von seinem Arzt verschrieben bekommen hat. Sobald Marlene und Line schlafen, sie sind jetzt schon in Brandenburg und Berlin ist nur noch dreißig, vierzig Kilometer entfernt, verlässt er die Autobahn. Er fährt in eine Waldstraße zwischen Kremmen und Börnicke. Es ist finster, als er unter Tannen den Motor abstellt. Er hat einen Reservekanister Benzin im Auto.

Es gibt Männer, die stellvertretend morden. Sie bringen ihre Kinder um, meinen aber eigentlich ihre frühere Partnerin. Manchmal tötet der Mann außerdem noch die Frau.

Und es gibt Männer, die eine Art stellvertretenden Suizid begehen; ihre Taten werden durch eigene Statusverluste befeuert, etwa durch Arbeitslosigkeit und finanziellen Ruin. Der Mann tötet die Kinder, weil er glaubt, er würde sie dadurch beschützen. Typischerweise tötet er sich selbst oder versucht es.

Beide Tätertypen eint, dass sie den Mann in der Regel als Kopf der Familie betrachten: Zum Mord treibt sie der drohende Verlust dieser Position. Wenn die Eltern geschieden sind, ereignen sich solche Taten, oft kurz bevor die eine Partei der anderen die Kinder zurückbringt. Statistisch gesehen ist die Gefahr eines Familienmords im August am höchsten, kurz bevor die Sommerferien enden.

„Ich wollte uns alle anzünden. Das war die einzige Option, die ich sah“, sagt Thue Rudgaard. „Ich schüttete Benzin über das Auto, das meiste verteilte ich auf der Rückbank. Ich vermied es, die Kinder anzusehen, als ich es tat. Danach setzte ich mich auf den Fahrersitz und zündete das Benzin mit meinem Feuerzeug an. In der nächsten Sekunde waren überall Flammen. Ich dachte, das Auto würde sofort explodieren, aber das tat es nicht. Ich versuchte durchzuhalten, aber ich fühlte das Feuer auf meiner Stirn, auf meinen Händen und auf meinen Beinen. Ich öffnete die Tür, warf mich hinaus und rollte durchs Gras. Dann schaute ich zurück zum Auto, es brannte lichterloh.“

Sie ist nicht religiös, aber an ihrem Grab redet sie mit ihren Töchtern. Sie spricht nicht laut, aber sie erzählt ihnen vieles Foto: privat

Sie planen eine Feier. Es wird eine Beerdigung

Er kann die Mädchen weder sehen noch hören. Er rennt vom Auto weg, bis er einen lauten Knall hört, dann dreht er sich um. Das Auto rollt ein Stück vor und erhellt den dunklen Wald wie ein riesiges Leuchtfeuer. Er läuft ziellos umher, bis das Feuer das rote Auto schwarz gefärbt hat. Später sagt er, er habe sich erinnert, dass er ein Küchenmesser in einer Tasche auf dem Vordersitz hatte. Dass er einen Stock nahm, um es herauszuholen. Aber dass der Griff geschmolzen war. „Ich versuchte, es gegen einen Baumstamm zu halten und mich selbst dagegenzudrücken, um mich zu töten, aber es war unmöglich“, sagt Thue Rudgaard.

Er läuft an der Autobahn entlang und versucht einige Autos anzuhalten. „Ich war erschöpft, meine Kehle war trocken. Ich sah Stopplichter und schließlich einen Laster, der für Straßenarbeiten da stand.“ Der Fahrer ruft die Polizei, ein Notarztwagen kommt. Thue sagt, seine Kinder seien nach einem Unfall im Auto verbrannt. Er sagt, er habe Englisch mit dem Fahrer des Notarztwagens gesprochen: „They are all gone.“ Der Fahrer sagt später vor Gericht aus, er habe gehört: „It is all done.“

Thue Rudgaards Unfallgeschichte wird durch forensische Beweise widerlegt, es ist Benzin über die Rückbank geschüttet worden. Einige Wochen später wird er im Krankenhaus festgenommen. Nach einigen Monaten gesteht er.

Als die Polizisten Christina Olsen die Nachricht vom ausgebrannten Auto überbringen, fragt einer von ihnen, ob Thue irgendwelche besonderen Kennzeichen habe. Die deutsche Polizei, sagt er, wolle herausfinden, ob der Fahrer des Autos tatsächlich Thue sei.

„Ich erinnere mich, dass ich dachte: ‚Hoffentlich ist er nicht tot.‘ Das wäre zu einfach. Er sollte sie nicht töten dürfen und hinterher mit ihnen zusammensein.“

Es verstreichen drei Wochen, bevor Christina die Kinder beerdigen kann.

„Ich hatte entschieden, dass sie zusammen in einem Sarg liegen sollten. Der Bestatter fragte nach Kissen und Bettwäsche für sie, das war schlimm, ich wollte nichts hergeben, worin sie geschlafen hatten und was ihren Geruch tragen könnte. Ich konnte ihnen auch nicht ihre Lieblingsteddys geben, ich habe sie noch.“

Christina Olsen und Mogens, ihr neuer Mann, haben eine Gartenparty für den 3. September 2011 geplant, um ihre Hochzeit und das neue Haus zu feiern. An diesem Tag werden die Mädchen beerdigt.

Olsen zeigt mir ein DIN-A4-Papier, in der Mitte gefaltet. Darauf stehen vier Lieder, die auf der Beerdigung gesungen wurden. Um den Text herum sind kleine Herzen gemalt, die wie Schmetterlinge fliegen.

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Prozent der Tötung von Kindern werden durch die Eltern oder Stiefeltern verübt. Bei Morden an unter Sechsjährigen sind 98 Prozent der Täter die Eltern

Quelle: noch unveröffentlichte Studie des KFN in Hannover

„Ich weiß, das klingt schlimm, aber ich wollte nicht, dass Thues Familie kommt. Das hieß, ich verweigerte ihnen die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Es war selbstsüchtig, aber ich hätte es nicht ausgehalten.“ Die Angehörigen der beiden Familien haben seitdem kaum miteinander gesprochen.

Christina Olsen geht in den ersten Stock und bringt eine Aldi-Tüte mit herunter. Es sind Papiere darin. Die Mappe mit der Polizeibefragung. Die Fallakte. Ausschnitte aus dänischen und deutschen Zeitungen. Ihre Tagebucheinträge, die von ihren Besuchen bei Gericht handeln.

Die Verhandlung in Berlin dauert 13 Tage. Als Christina im März 2012 als Zeugin aussagen soll, wird der Termin abgesagt, weil Thue im Gefängnis versucht hat, sich umzubringen. Dann, im Mai, sagt sie aus. Vier Stunden lang.

„Ich sah Thue an und dachte: ‚Du hast mir das Wertvollste genommen, was ich je hatte, aber ich werde das überstehen‘.“

Die Strategie der Verteidigung ist, sie als schlechte Mutter und Ehefrau darzustellen. Sie schüttelt den Kopf, als sie davon erzählt. „Als ob das in irgendeiner Weise rechtfertigen würde, die Kinder umzubringen.“

Am 31. Mai 2012 wird Thue Rudgaard in Potsdam zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Christina ist nicht da. In der Begründung des Urteils steht, die Morde hätten sorgfältig geplant gewirkt, weil Thue Rudgaard Benzinkanister und Schlaftabletten aus Dänemark mitgebracht hatte. Kurz bevor das Urteil verkündet wird, bittet er darum, sprechen zu dürfen. Er sagt: „Es war kein Akt des Hasses. Es war ein Akt der Liebe. Sie können mich nicht härter bestrafen, als ich selbst es bereits getan habe. Ich werde nicht um Vergebung bitten, denn ich kann mir selbst nicht vergeben.“

Christina Olsen nennt Lines und Marlenes Grab in Als ihren Garten. Manchmal kommt sie jeden Tag hierher, manchmal vergehen Wochen zwischen ihren Besuchen. Es könnte viel Laub auf dem Grab liegen, sagt sie, bevor wir es besuchen. Die Kirche ist von einer niedrigen weißen Mauer umgeben, mit einem Blick auf das Kattegat. Es liegen Kiesel, Muscheln und Herzen auf dem Grab.

Der Grabstein trägt nur Lines und Marlenes Vornamen und ihre Geburtsdaten. Thues Nachnamen wollte Christina nicht daraufschreiben lassen. „Und es gibt keinen Grund, die Sterbedaten hervorzuheben“, sagt sie.

„Ich bedauere es nicht, mit Thue Kinder ­bekommen zu haben. Wir hatten gute Zeiten zusammen. Wir waren glücklich“

Sie steht ruhig am Grab, für eine lange Zeit. In der Ferne können wir den Gärtner den Kies rechen hören, ansonsten ist es völlig still. Es gibt eine kleine Steinbank, auf die sie manchmal Süßigkeiten legt, weil sie weiß, dass viele Kinder hier vorbeikommen.

„Hier leben sie“, sagt sie. „Ich bin nicht religiös, aber in mir rede ich mit ihnen. Ich spreche nicht laut, aber ich erzähle ihnen vieles.“

Gelegentlich sprechen Mogens und sie darüber, wegzuziehen, um irgendwo in Dänemark neu zu beginnen. Oder irgendwo in der Welt. „Aber ich bin an diesen Ort gebunden, weil sie hier auf dem Friedhof liegen und ich sie nicht mitnehmen kann.“

Lines Zimmer ist jetzt voller Stoffe, Schnittmuster und Kleider auf Bügeln, eine Nähmaschine steht darin. Auf dem Bett liegen die Teddybären der Kinder. Die Lampe ist pinkfarben. Marlenes Zimmer dient heute als Büro, aber es steht noch immer ein Buch über Justin Bieber im Regal. „Einige Sachen von ihnen habe ich Freunden gegeben“, sagt Christina. „Es ist wichtig für mich, dass das Haus kein Museum wird.“ Sie versucht, die Erinnerungen lebendig zu halten.

„Zunächst klammerte ich mich an alles, was nach ihnen roch. So konnte ich das Gefühl einer Umarmung zurückholen, den Duft ihres Haars. Ich konnte sie in ihren Zimmern riechen. Das kann ich heute nicht mehr. Und ich habe große Angst, dass ich eines Tages der einzige Mensch bin, der sich an sie erinnert. Ich kann mich nicht mehr so gut an ihre Stimmen erinnern wie an die Dinge, die sie gesagt haben. Das ist beängstigend.“

Als ist eine kleine Stadt. Christina fragt sich manchmal, was die Leute über sie denken, zum Beispiel, wenn sie im Fitnessstudio zu lauter Musik ihre Übungen macht. „Einige könnten denken: ‚Ich frage mich, ob sie glücklich ist oder ob sie nur etwas vorspielt.‘ Ich frage mich, ob die Leute es in Ordnung finden, nach dem Verlust zweier Kinder weiterzuleben. Sollte man nicht zu Hause bleiben und traurig sein?“

Einmal läuft sie hinter einer Gruppe von Kindern her, möglicherweise sind einige Klassenkameradinnen ihrer Tochter darunter. Da hört sie ein Kind flüstern: „Ist sie nicht die, deren Kinder ermordet wurden?“ „Da dachte ich, so sehen sie mich also. Als die Frau mit den toten Kindern.“

Sie war einmal Lines und Marlenes Mutter. Sie ist nur noch Christina.

Die Polizisten sagten, es könnten auch andere Kinder sein. Dass es vielleicht ein Unfall war. Aber sie wusste sofort Bescheid Foto: Christian Griebel/ddp

„Ich habe meine Identität als Mutter verloren. Wenn ich früher andere Eltern auf der Straße traf, redeten wir über unsere Kinder. Das war von einem Tag auf den anderen vorbei.“

Im Fall von Thue Rudgaard legte der deutsche Richter Wert auf den Fakt, dass seine Suizidabsicht als nicht stark betrachtet wurde. Seitdem hat Thue mehrmals versucht, sich umzubringen. Er hat Angst, er könnte auch in Dänemark zu einer lebenslangen Strafe verurteilt werden. „Wenn die Aussicht ist, dass ich für den Rest meines Lebens hier bleibe, dann würde ich lieber sterben“, sagt er.

„Homicide-suicide“ ist der englische Fachbegriff für Tötungen, nach denen der Täter Suizid begeht oder es versucht. Oft geschieht das nach Familienmorden, die Hälfte der Täter begeht nach solchen Taten Suizid. Typischerweise ziehen Männer diese Option.

Es ist ein sehr kalter Morgen im Februar, als Thue in Aalborg vor einem dänischen Richter steht. Er trägt eine Sonnenbrille, als er in den Saal geführt wird. Elf Menschen sind anwesend, Angehörige und Freunde von Christina und ihm. Die zwei Familien grüßen einander nicht. Christina Olsen sitzt zwei Reihen hinter Thue Rudgaard.

Sie hat ihrem früheren Ehemann mehrmals geschrieben. Sie hat um Erlaubnis gebeten, ihn im dänischen Gefängnis besuchen zu dürfen. Er lehnte das ab. Nach der Verhandlung in Aalborg sagt sie: „Ich habe mit ihm heute abgeschlossen. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Ich habe Lebewohl gesagt.“

Es ist seltsam für sie, in einem Raum mit dem Menschen zu sein, der ihr zugleich sehr vertraute und völlig fremd ist. Sie sucht den Mann, den sie einst geheiratet hat. „Ich habe auf seinen Hals gestarrt. Ich hätte ihn berühren können. Ich war für einige Momente wütend, aber das ging vorüber. Es war nur Thue.“

Es dauert 22 Minuten, bis der Richter die deutsche Strafe bestätigt. Es ist der 4. Juli 2016. Thue muss lebenslänglich ins Gefängnis. Er ruft sofort die nächste Instanz an.

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Prozent beträgt der Rückgang der Zahl der von Eltern ermordeten Kinder zwischen 1993 und 2015. Vor allem in Ostdeutschland sind es weniger Fälle

Quelle: noch unveröffentlichte Studie des KFN

Er weint viel, als wir uns im Gefängnis unterhalten. Er unterzog sich in Potsdam einer psychologischen Untersuchung, er sprach ein paar Mal mit einem Psychologen, allerdings auf Deutsch, das er nicht sehr gut spricht. „Ich wollte nicht mehr darüber reden. Es tut so weh“, sagt Thue.

Wie kann er leben mit seiner Tat?

„Kann ich nicht“, sagt er. „Es ist eine Selbstfolter, darüber nachzudenken, was ich hätte anders machen können. Ich denke, wäre es doch bloß ein Verkehrsunfall gewesen. Aber ich habe es selbst getan.“ Er hält inne. „Mein deutscher Anwalt hat bemerkt, dass ich die Sache einen Unfall nannte. Und das war es auch. In meinem Kopf war es ein Unfall“, sagt er.

Wenn Sie die beiden vermissen, denken Sie dann darüber nach, dass Sie es waren, der sie umgebracht hat?

„Ich fühle eine Mischung aus Schuld, Scham und Verlust, die es besonders schwer macht, damit zu leben.“ Die schwersten Momente seien die, in denen er an das Leben denkt, das sie hatten. „Als Christina und ich unsere beiden Mädchen hatten, als wir Arbeit hatten und Geld auf der Bank, damals war ich glücklich. Kurz danach fiel alles auseinander. Ich wünsche mir so sehr, ein gutes Leben mit meinen Töchtern gehabt zu haben. Eine glückliche, sichere Familie war einer meiner Lebensträume.“

Warum haben Sie sie dann umgebracht?

„Was er tat, das war böse. Aber er ist kein böser Mensch. Manche werden das seltsam finden, aber ich hasse ihn nicht. Ich hasse, was er tat“

„Darüber habe ich viel nachgedacht. Es ist unbegreiflich und kompliziert. Es war eine Mischung aus meiner Depression und unserer gescheiterten Ehe.“

Was hätte anders sein müssen, um das zu verhindern?

„Christina ist wohl die einzige, die es hätte verhindern können. Wenn wir nicht um die Kinder gekämpft hätten. Wenn sie ein wenig nachgegeben hätte oder sich für ihre Provokationen entschuldigt. Sie ist auch schuldig, weil sie mich unter Druck setzte. Sie wusste, dass ich schwach bin.“

Es ist Abend geworden. Als die Tür aufgeschlagen wird, erschrecken wir beide. Es ist ein Wärter. „Sitzen Sie hier im Dunkeln?“, fragt er und macht das Licht an. Thue Rudgaard kneift die Augen zusammen. Auf dem Weg nach draußen sagt er: „Es tut mir leid, dass ich Christina kritisiert habe. Ich wollte wirklich nur verhindern, dass andere in die gleiche Situation geraten.“

Christina hat all die Dinge behalten, die auf Lines und Marlenes Grab gelegt wurden. Spruchbänder, Teddys, Herzen, kleine Botschaften : „Ich werde dich nie vergessen.“ „Wir vermissen dein Lächeln und Lachen“. Einen Anstecker von Justin Bieber.

Sie joggt, sitzt in der Sonne. Sie spricht mit Hühnern

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Sexualmorde pro Jahr wurden in den 1980ern an Kindern unter 14 Jahren begangen. Heute ist es durchschnittlich ein Sexualmord pro Jahr

Quelle: noch unveröffentlichte Studie des KFN

„Wenn Thue sagt, ich soll einen Teil der Schuld auf mich nehmen, beeindruckt mich das nicht“, sagt Christina Olsen. „Vielleicht war ich ein Grund, warum er in schlechter Verfassung war, aber ich fühle mich nicht schuldig am Tod meiner Mädchen.“

Denkt sie, wenn sie an Thue denkt, an einen bösen Menschen? Christina schüttelt den Kopf. „Er war verzweifelt und rachsüchtig. Das ist nicht das Gleiche. Was er tat, das war böse. Aber er ist kein böser Mensch“, sagt sie. „Manche werden das seltsam finden, aber ich hasse ihn nicht. Ich hasse, was er tat.“

Nach dem Tod der Mädchen ist einer ihrer ersten Gedanken: „Ich will hier nicht mehr sein.“ Dann geht sie zur Therapie. Es gibt Tage, an denen sie kaum ihre Augen öffnen kann, an denen sie nur weint. An einem der Geburtstage der Kinder oder am Jahrestag des Moments, an dem sie sie das letzte Mal gesehen hat. Manchmal kommt die Trauer unangekündigt. „Dann bin ich völlig erschöpft, will mich nur wegschließen und mit niemandem reden. Aber langsam komme ich dann wieder zurück. Und es geht immer vorüber.“

Sie achtet darauf, Dinge zu tun, die gut für sie sind. Sie verbringt Zeit mit ihrer Familie, sitzt in der Sonne, joggt, sie spricht mit Hühnern. Ein Jahr nach dem Tod der Kinder lässt sie sich tätowieren. 30 Zentimeter lang auf ihrem rechten Unterarm, da steht: Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist.

Sie liebt das Tattoo. Sie glaubt, nur wer vergisst, dass er sterben muss, der vergisst auch zu leben.

Sie will das Beste aus ihrer Zeit machen.

Die Buchstaben des Tattoos sind von den gleichen Zeichnungen umgeben, die auch auf dem Liedblatt von der Beerdigung abgedruckt sind: Herzen, die fliegen.

Übersetzung aus dem Englischen: Klaus Raab

Line Vaaben, arbeitet als Journalistin in Dänemark.

Recherche: Anastasia Hammerschmied