Ausdauerschach

Wenn andere schon lange remisieren wollen, kämpft Wesselin Topalow weiter um den Sieg – auch bei der WM

BADEN-BADEN taz ■ „Ich habe keine Angst vor dem Verlieren!“ Diesen Unterschied zwischen sich und anderen Schach-Großmeistern hat Wesselin Topalow schon in zahlreichen Turnieren ausgemacht. Wo andere ängstlich eine Remisfortsetzung suchen und nach 25 Zügen ein Unentschieden vereinbaren, kämpft der Bulgare auch noch im 70. oder 80. Zug verbissen um den ganzen Zähler. Seine überlegene körperliche Fitness dank vielen Waldläufen und Hanteltraining zahlt sich in der sechsten Spielstunde oft für den drahtigen Denkstrategen aus. Die Schachfans lieben Topalow für seinen Einsatzwillen – und drücken ihm die Daumen, dass er diesen Satz im wichtigsten Moment seiner Karriere in der kommenden Nacht einmal mehr bestätigt und locker aufspielt.

Leicht wird das nicht. Nach zwölf der 14 Runden bei der Weltmeisterschaft im argentinischen San Luis besaß Topalow noch einen komfortablen Vorsprung von 1,5 Punkten. Mit 9:3 Zählern führte der 30-Jährige vor dem Russen Peter Swidler und dem Weltranglistenersten Viswanathan Anand (beide 7,5:4,5). Vor allem der Inder kam nach einem kurzen Leistungstief wieder in Fahrt, so dass dem einstigen Topfavoriten zwei weitere Siege zuzutrauen sind. Topalow bräuchte dann genau die Resultate, die er seltener als alle anderen Koryphäen „klammert“: zwei Remis, um mit einem halben Punkt Vorsprung über die Ziellinie zu gehen. In der vergangenen Nacht war Rustam Kasimdschanow sein Gegner. Der Usbeke konnte zwar als Titelverteidiger antreten, weil die letzte WM des Schach-Weltverbandes FIDE von den meisten Stars boykottiert worden war, mit 4,5:7,5 hatte der Weltranglisten-34. jedoch erwartungsgemäß gegen die Elite wenig zu bestellen.

Doch ohne Druck spielt es sich für Kasimdschanow einfacher, als mit Topalows Last, vor dem größten Erfolg zu stehen. Nach seiner furiosen Vorrunde mit sechs Siegen und nur einem Remis meißelte sich selbst in Topalows unerschrockene Gehirnwindungen ein gewisses Sicherheitsdenken ein. Aus dem Spiel mit D-Zug-Tempo wurde in der Rückrunde eine müde Lok, die lediglich gegen den viertplatzierten Alexander Morosewitsch (5:5) nochmals unter Volldampf stand. Letztlich rettete sich aber auch der Russe auf wundersame Weise in den Friedensschluss.

Sollte Topalow gegen Kasimdschanow verlieren und Anand bis auf einen halben Zähler heranrücken, stünde der Weltranglistenzweite vor einer altbekannten Situation: Als er 1992 in die Spitze schoss, gelangen dem damals 17-Jährigen binnen zwölf Monaten zehn Open-Siege. Bei diesen offenen Turnieren, die seinen Spielstil prägten, kann jedes Unentschieden eine Stange Geld kosten – und ein Sieg im letzten Duell gegen einen direkten Kontrahenten ist besonders wichtig. Nur der Erste verdient ein paar tausend Euro, für den vierten, fünften Platz gibt es kaum genug, um davon komfortabel zu leben. Gegen die weltbeste Frau, Judit Polgar, könnte es für Topalow heute Nacht um 300.000 Dollar gehen. So viel erhält der neue FIDE-Weltmeister aus dem mit insgesamt einer Million US-Dollar dotierten Preistopf. Schwerer wiegt jedoch der Gewinn des Titels. Der Champion erhält höhere Antrittsgelder, überdies winken hochdotierte Werbeverträge – und ein millionenschweres Vereinigungsmatch gegen Wladimir Kramnik.

Der Russe hatte 2000 den vom Weltverband abtrünnigen Garri Kasparow bezwungen und den Konkurrenz-Titel erobert. Dass Topalow seinen gleichaltrigen Widersacher deklassiert, ist für die Anhänger des kämpferischsten Großmeisters ausgemachte Sache. Kramnik befindet sich schließlich seit Jahren in einer Formkrise und rutschte in der Weltrangliste auf Platz sechs ab. Die Vergleiche Topalows mit dem zurückgetretenen Kasparow nehmen zu, nicht nur, weil er den Russen in seiner letzten Turnierpartie im März im spanischen Linares schlug. Der 30-Jährige spielt auch mit ähnlichem Feuer wie das „Ungeheuer von Baku“. Keiner kann das besser beurteilen als Altmeister Viktor Kortschnoi. Der steht noch mit 74 in den Top 100. Für den „Nachwuchs“ hat Kortschnoi selten lobende Worte übrig – von Topalow zeigt sich der mehrfache Vizeweltmeister allerdings angetan: „Er wäre als Weltmeister der einzige legitime Nachfolger von Kasparow. Topalows Spiel steckt voller Phantasie und Energie. Sein mutiger Stil gefällt mir.“

HARTMUT METZ