Eine große sich liebende Grütze

THEATER Man erinnert sich an Partys, an wirre Träume, an Jörn und Arina, die in den Wald zogen – die Performance „Flow/Wasser“ in den Sophiensælen mäandert wie das Wasser

VON KIRSTEN RIESSELMANN

An der Kasse beim Ticketholen bekommt man ein kleines Stück Pressholz. Kommentarlos. Es wird den Abend über keine Rolle spielen. Außer, dass man sich anderthalb Stunden an es klammert wie eine Ertrinkende an den Strohhalm, während um einen herum „Flow/ Wasser“ rauscht und plätschert, strudelt und gurgelt, Textkaskaden über einen ergießt, als endlos dahinfließender Strom, in den man keinen Pflock gerammt kriegt. Man umklammert dieses Holz, bis man Spreißel in den Fingern hat.

Das Theaterkollektiv 400asa Sektion Nord spielt „Flow/Wasser“ in Berlin, nachdem das Stück schon im Zürcher Theater in der Gessnerallee gelaufen ist. Das Kollektiv, eine deutsch-schweizerische Abspaltung der seit 1998 durchaus politisch-provokant agierenden Schweizer Truppe 400asa, besteht aus Kernmitgliedern (Regisseur Samuel Schwarz, Schauspielerin Wanda Wylowa und Bühnenbilder Philipp Stengele) und deutschen Trabanten: Claudia Basrawi und Ted Gaier (Die Goldenen Zitronen) spielen mit, sind aber zusammen mit Schwarz auch für Text und Konzept verantwortlich. Außerdem treten die in der hiesigen Pop- und Subkulturszene durchaus namhaften Gina d’Orio (Cobra Killer), Anton Spielmann (1.000 Robota) und Mario Mentrup auf.

Der Ankündigungstext klang schon reichlich schräg, ist aber letztendlich noch das Konkreteste, was man bekommt. Ein Stück, das „um das Element Wasser herum“ entwickelt wird, rückblickend erzählt als „Entstehungsgeschichte des musikalischen Wunderwerks ‚Flow‘, das eine Revolution des Bewusstseins auslöste und zur Auflösung des Ichs führte“, wonach das „Zeitalter der Meerechse“ Einzug hielt, das „nicht nur esoterische Heilung, sondern auch eine kurze Diktatur mit Folterkammern aus Eis“ brachte. Oookay, dachte man, die guten, schlauen, bewährten Menschen werden schon was draus machen.

Nach neunzig Minuten haltlosen Brainfucks kann man nur sagen: Nicht viel. Oder besser: Viel zu viel. Das Publikum sitzt auf Matten und Bänken, auf Monitoren läuft Gefilmtes, das das Gespielte mehr oder weniger exakt spiegelt, im Hintergrund der Bühne zieht sich quer durch den Raum eine Bahn Spiegelfolie, die in zitternder Wasserimitation das Bühnengeschehen und auch den zweiten Spielort spiegelt, eine kleine Guckkastenbühne hinter dem Publikum. Spiegelungen, Verzerrungen, Verwässerungen – was mit der Wasserthematik als Bühnenbild durchaus funktioniert, geht in dramatischer Hinsicht tosend unter.

Irgendwie geht es um eine Gruppe Postposthippies, die aus einer über dreißig Jahre entfernten Zukunft den Versuch unternehmen, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Was sie erinnern – die Erinnerungsfetzen kommen zu 90 Prozent aus den Boxen, nicht aus den Mündern der Schauspieler – ist extrem diskontinuierlich und assoziativ. Man bekommt gerade noch mit, dass ein Jörn ein revolutionäres Album rausgebracht hat, „Flow“ eben, das mittels einer neuartigen Technologie übers Wasser distribuiert wurde und zur seligen Auslöschung des Ich-Bewusstseins geführt hat, zu einem gefühlten Dauermiteinander.

Dann spielen die charismatische Arina und ihre libidinösen Verbandelungen eine Rolle. Man erinnert sich an Partys, bei denen „wir zu einer großen, sich liebenden Grütze verschmolzen“, an wirre Träume, an den Wegzug von Jörn und Arina in eine Waldhütte, wo sie sich demonstrativ als glückliche Kleinfamilie erfanden, man erinnert sich an die Wirkung von „Flow“: die Befreiung von der Zeit, die Entdeckung der wahren menschlichen Natur.

Stopp! Kopfschmerzen!

Es hagelt verquaste Reflexionen und assoziative Fetzen, Banales und Komplexes wird gestreift und angerissen, Ich- und Nicht-Ich-Sein-Wollen, das Bedürfnis nach Gruppe und Allein-Sein, „das Erstarken der Rechts-links-Partei“, die „Offline-Bewegung“, Traumpaare des Nachtlebens, Koteletts, zum Interieur passende Gabeln … Schluss! Stopp! Kopfschmerzen!

Vorher viele gute Gedanken gemacht haben sie sich sicher. Vielleicht wollten sie eine Aussage treffen zur perversen Perspektive einer digitalen Gesellschaft, die in den Social Media das Teilen lapidarer Privatheiten als Vergemeinschaftung erfährt. Vielleicht wollten sie über die Aussichten für eine Menschheit nachdenken, für die die Utopie der Multitude in den Horror der digitalen Totalgleichzeitig- und -gültigkeit kippt – und die anfällig wird für Sehnsüchte nach einem neuen Diktatorischen, das sich als esoterischer Universalismus verkleidet. Vielleicht.

„Flow/Wasser“ ist Pollesch hoch zehn. Ohne lustig. Sondern nur noch mit Fragezeichen. Vielleicht soll das ja so. Der Applaus war spärlich.

■ In den Sophiensælen wieder: heute sowie 18. und 19. 12., jeweils um 20 Uhr