DIE LPG-OASE SCHLÄGT ANTHROPOSOPHISCHE GEBURTSKLINIKEN, WELLNESSLANDSCHAFTEN, KLETTERGÄRTEN UND WINDSURFPARADIESE IM KÜNSTLICHKEITSWETTBEWERB: Es leuchtet das gelb-grüne Biolicht
VON KATHRIN RÖGGLA
Das Ranking der künstlichen Orte führt heute an: die LPG-Oase. Bin ich mir sicher. Sie schlägt heute alles, anthroposophische Geburtskliniken, den ehemaligen Röntgenpalast am Kotti, Zahnarztpraxen gegen die Angst, Botoxstationen am Ku’damm, Wellnesslandschaften, Klettergärten, Windsurfparadiese, die merkwürdigerweise immer als Geheimtipp gelten, Seniorenresidenzen, Fernsehgärten, Rundfunkanstalten, Arbeits- und Bürokomplexe wie den von Unilever in Hamburg. Und Autostädte! Ja, so ist es: Ganze Autostädte wollen wir durchlaufen, während gleichzeitig die Opelwerke schließen, eins nach dem anderen, aber heute sehen wir eben nichts anderes als die LPG-Oase – Number one, ganz vorne im Künstlichkeitswettbewerb.
Wie erstaunlich, sitze ich doch gerade in einer drinnen, in der Hand die übliche Tasse Familienfluchtkaffee. Ja, gerade hier im hintersten Winkel Kreuzbergs leuchtet das gelb-grüne Biolicht, es flackert im Schneegestöber nicht, es erstrahlt, sozusagen geradlinig. Wo bleibt denn da der Gegenkünstlichkeitszauber? So etwas wie der Zirkus Cabuwazi oder der Rixdorfer Weihnachtsmarkt würden schon was ausrichten können hier. Aber nein, von Cabuwazi ist nichts zu sehen.
Vor ein paar Wochen noch konnte ich immerhin einen kleinen Versuch betrachten. Eine fahrbare Lichtorgel erleuchtete plötzlich den gegenüber liegenden Kindergarten, es ertönte laute Animationsmusik mit einem Touch „Laterne, Laterne …“, und das Ende November! War es etwa ein Gema-Gebühren-Anfall, ein Disneyklumpen oder gar Gegendisney? Eine volle Woche zu spät, einen Atemzug zu lang, einen Clown zu viel setzte sich etwas Undefinierbares in Bewegung, raus aus dem umzäunten Hof der Kita, über die Reichenberger Straße hinweg sozusagen, als ob das ginge, und hintennach trotteten milde türkische Familien mit ihren Laternen, die einen ruhigeren Umzug verdient hätten. Die LPG-Innenbewohner schüttelten den Kopf und hielten das nicht für echt und doch irgendwie für einen Moment im Leben der Kinder, wie es so schön heißt, dabei sind sie selbst höchst fiktiv.
Die moderne junge Bettlerin beim Eingang weiß das nur zu genau, hat sie doch denselben Bio-Tonfall angenommen wie das Einkaufsgelumpe, abzielend auf junge Frauen und Mütter, sie spiegelnd. Vergebliche Arbeit, wie es aussieht, während ihre Kollegin Vodja vor dem Lidl da schon reale Entsprechungen erntet. Liegt es am Lidl-Ablassgebot? So unter dem Motto: Wer bei dem Verein was kauft, muss Federn lassen! Ach was, zu katholisch gedacht! Man spricht einfach lieber mit ihr. Nur was ist das überhaupt für eine Form des Gabentauschs? Schwer zu entscheiden.
Was ebenfalls bis heute nicht einzuordnen ist, ist der performative Widerspruch des Aldi-Markts am Maybachufer. Den ganzen Sommer lang durfte man den architektonischen Inszenierungsaufwand bestaunen, im Herbst zeigte sich dann abrupt das Aldi-eh-und-je-Angebot in alter Gelassenheit, und jetzt tut man schon so, als habe man das verkraftet. Es ist halt Advent, nur ich darf nicht mit: Die traditionelle Lesung für Obdachlose ist mir in diesem Jahr durch die Lappen gegangen, die Soliveranstaltung für einen von Rausschmiss bedrohten Mieter in Kreuzberg wurde wieder abgesagt, Palästina wurde von der UN anerkannt, und so bleibt nichts anderes, als mich über Richard Sennetts vorweihnachtliches „Zusammenarbeiten“-Buch zu beugen und die sozialen Fähigkeiten der Menschen zu bewundern, wenn man sie denn nur lässt.
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