Daniél Kretschmar über Reaktionen auf die Tat von Ansbach
: Wenn das Bauchgefühl regiert

Dass das Wahrscheinliche nicht das einzig Mögliche ist, hat uns München gelehrt

Eine Bombe explodiert in der Nähe einer größeren Menschenmenge, mitten in der fränkischen Provinz. Der Täter, ein syrischer Flüchtling, stirbt, mehrere Verletzte sind zu beklagen. Die Stadt Ansbach erlebt einen Ausnahmezustand, so wie München nur wenige Tage zuvor, als ein Amokläufer neun Menschen ermordete. Was also ist in Ansbach geschehen? „Meine persönliche Einschätzung ist, dass ich es leider für sehr naheliegend halte, dass hier ein echter islamistischer Selbstmordanschlag stattgefunden hat.“

Dieser Gedanke ist nachvollziehbar und hat sich im Verlauf der Ermittlungen auch bestätigt. Jedoch ist dieser Satz, in dem Moment, da er vom bayerischen Innenminister nur wenige Stunden nach der Tat zu Protokoll gegeben wird, nicht mehr als das: eine persönliche Einschätzung. Eine Mutmaßung. Nach allem, was wir wissen, gibt es zu dem Zeitpunkt, da Herrmann „islamistischer Selbstmordanschlag“ sagt, keinen konkreten Anhaltspunkt, der diese Aussage untermauern würde. Nüchtern betrachtet, lässt sich nur eins mit Sicherheit sagen: Ein Mann, dessen Motive völlig im Dunkeln liegen, hat in Ansbach eine Bombe gezündet.

Joachim Herrmann darf natürlich „persönliche Einschätzungen“ haben. Nur ist er eben kein zufällig der Nachrichtenagentur dpa vor den Notizblock gelaufener Passant, der mal seine Meinung sagt, sondern bayerischer Innenminister, der in offizieller Funktion den Stand der Ermittlungen weitergibt. Er muss wissen, dass seine Mutmaßung Schlagzeilenfutter ist, das ohne Not eine aufgeheizte, panische Stimmung verschärfen kann. Ohne Not unter anderem deshalb, weil diverse Medien auch ohne Herrmanns Schützenhilfe mit „islamistischem Terror“ titeln würden, gleichgültig, ob diese Bewertung durch mehr als ein bloßes Bauchgefühl gestützt ist.

Es ist ja auch so einfach: Ein Syrer und eine Bombe – eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht schon, dass es sich um einen Anschlag islamistischer Provenienz handelt. Nur ist das Wahrscheinliche eben nicht das einzig Mögliche, wie uns nicht zuletzt die Nacht von München lehrt. Genau zu trennen, was bekannt, was möglich oder wahrscheinlich ist und was völlig im Reich der Spekulation liegt, das ist Aufgabe von Behörden und verantwortungsvollen Medien. Leisten wir diese Trennung nicht, können wir unsere „Informationen“ auch gleich ungefiltert aus den Twitter-Feeds rechtspopulistischer Hassprediger und dschihadistischer Mörderbanden beziehen.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière beklagt mit Blick auf München das vorsätzliche Verbreiten von Falschmeldungen. Es behindere unter anderem die Arbeit der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden. Das Internet habe einen „Beschleunigungseffekt für Gerüchte und Falschmeldungen“. Mag sein. Wenn die zu beschleunigenden Gerüchte jedoch vom Dienstherrn der Ermittlungsbehörden selbst eingespeist werden, muss niemand sich wundern über durch Fehlinformationen hervorgerufene Unsicherheit und ein Publikum, das immer weniger zwischen Fakten und Fiktion unterscheiden kann oder will.

Wer Angst nicht zu politischem Kapital umwerten und Hysterie für Klick­hypes ausbeuten will, wer also auch nur irgendein berufliches Interesse daran hat, dass Bekanntes von Märchen und Vernunft von irrationaler Verwirrtheit getrennt wird, trägt eine große Verantwortung. Dinge müssen selbstverständlich beim Namen genannt werden – ob Amok oder Terror, Unfall oder Wahnsinn.

Solange aber keine Klarheit da­rüber herrscht, was wirklich geschehen ist, gilt, dass Schweigen mit Gold kaum aufgewogen werden kann. „Persönliche Einschätzungen“ der Verantwortungsträger gehören dann vielleicht in die interne Lagebesprechung, aber nicht in die Welt hinausposaunt.

Das Bundesinnenministerium beantwortete Fragen nach einem islamistischen Hintergrund am Montag denn auch weitaus vorsichtiger: „Bisher ist es einfach so, dass wir dafür keinen belastbaren Hinweis haben.“ Übereilte Zuschreibungen seien wohl möglicher Übermüdung der Verantwortlichen geschuldet. Ins Bett schicken möchte man da auch den bayerischen Justizminister Bausback, der das nächtliche Urteil seines Kabinettskollegen Herrmann nochmals bestärkte, statt die Ermittlungsergebnisse abzuwarten.

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