Helfen für den Lebenslauf

ENGAGEMENT Das Freiwillige Soziale Jahr ist für viele interessant, weil es die Biografie bereichert. Die Politik verklärt das Engagement

Zahlen: Laut Bundesfamilienministerium haben 2009 etwa 37.500 Jugendliche einen gesetzlich geregelten Freiwilligendienst im In- und Ausland begonnen. Das sind 4.500 mehr als vor vier Jahren. Unter der Verantwortung des Familienministeriums stehen das Freiwillige Soziale Jahr, bei dem man auch in den Bereichen Kultur, Sport und Denkmalpflege arbeiten kann, und das Freiwillige Ökologische Jahr. Laut Gesetz sind das Bildungsdienste ohne Erwerbsinteresse, bezahlt mit durchschnittlich knapp 300 Euro im Monat. Sie können zwischen sechs und achtzehn Monaten dauern und sind für Menschen von 16 bis 26 Jahren offen.

Regeln: Das Freiwilligendienstgesetz von 2008 gilt nur für FSJ und FÖJ. Bundesfamilienministerin von der Leyen hat angekündigt, einheitliche Regeln für mehr Dienste schaffen zu wollen. Außerhalb des Familienministeriums gibt es die Programme „weltwärts“ des Entwicklungsministeriums und „kulturweit“ des Auswärtigen Amtes, die Freiwillige ins Ausland schicken. Dienste außerhalb von Deutschland werden auch von verschiedenen weiteren Trägern angeboten, so etwa von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste oder der Europäischen Union als Europäischem Freiwilligendienst (EVS). Bei nichtstaatlichen Anbietern müssen Freiwillige hier aber teilweise selbst zuzahlen.

AUS BERLIN LUISE STROTHMANN

Julia Oschlies nennt sich selbst einen Denker. Sie achtet darauf, dass die Dinge, die sie tut, für ihre Zukunft Sinn ergeben und einer erkennbaren Ordnung folgen. Abitur, Studium, Beruf.

Seit Kurzem macht Julia Oschlies ein Freiwilliges Soziales Jahr. Die 19-Jährige hat in diesem Herbst damit angefangen, und so viele Freiwillige wie in ihrem Jahrgang gab es in Deutschland noch nie. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sagt, das sei „ein Beweis dafür, dass immer mehr junge Menschen in Deutschland sich für die Allgemeinheit einsetzen wollen.“

Julia Oschlies’ Allgemeinheit heißt heute ebenfalls Julia, ist fünfeinhalb Jahr alt und hat keine Lust auf Mathehausaufgaben. Das Mädchen sitzt an einem Schultisch, zieht den Ärmel ihres Pullovers über die Hand und schaut Oschlies an. Die wiederholt: „Drei Katzenbabys liegen bei der Mutter, zwei hier an der Seite – wie viele Katzenbabys sind das zusammen?“ Julia zerbricht ihren Radiergummi, dann legt sie den Kopf auf den Tisch.

Pragmatische Freiwillige

Julia Oschlies wollte jetzt eigentlich an der Uni sein. Stattdessen arbeitet sie in einem Schulprojekt der Malteser an einer katholischen Schule in Berlin: Nachmittagsbetreuung, Unterstützung der Lehrer im Unterricht, Hausaufgabenhilfe. Als die 19-Jährige sich nach dem Abitur im Sommer für das Studium bewarb, kamen nur Absagen. „Ich habe überlegt, als Überbrückung etwas Ehrenamtliches zu machen, das man in den Lebenslauf integrieren kann“, sagt sie. So wurde sie Freiwillige, ganz pragmatisch.

Mit Oschlies haben etwa 37.500 Jugendliche in diesem Jahr einen Freiwilligendienst begonnen – 4.500 mehr als noch vor vier Jahren. Der allergrößte Teil der Jugendlichen, etwa 35.000, macht ein Freiwilliges Soziales Jahr. Das FSJ gibt es seit Anfang der Sechzigerjahre, es sollte persönliche und berufliche Orientierung verbinden. Noch heute arbeiten die meisten FSJler für die großen Wohlfahrtsverbände etwa in Altenheimen, Kindergärten oder Behinderteneinrichtungen. Aber seit den Neunzigern vervielfachen sich die Möglichkeiten: Ein Freiwilliges Ökologisches Jahr wurde eingeführt, unter dem Dach des FSJ entstanden Freiwilligendienste in den Bereichen Kultur, Sport und Denkmalpflege, seit Kurzem haben auch noch das Entwicklungsministerium und das Auswärtige Amt eigene Freiwilligendienste.

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat nun angekündigt, die Freiwilligendienste in Deutschland auszubauen. Laut Koalitionsvertrag will die schwarz-gelbe Bundesregierung unter anderem den Freiwilligenstatus einheitlich gesetzlich festlegen. Was konkret geplant ist, dazu sagt man im Familienministerium noch nichts. Nur dass es bis Anfang 2011 geschehen sein soll – bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Zivildienst voraussichtlich auf sechs Monate verkürzt wird.

Als von der Leyen sagte, sie werde sich um die Freiwilligendienste kümmern, ging es auch darum, die Sozialverbände zu beruhigen. Viele hatten angekündigt, bei einem halbjährigen Zivildienst künftig auf FSJler umzusteigen. Sie forderten, in die Freiwilligendienste müsse auch das Geld fließen, dass durch die Verkürzung eingespart werde. Momentan fördert das Familienministerium FSJ und FÖJ mit rund 18,6 Millionen Euro jährlich. Damit zahlt es eine Pauschale für die pädagogische Betreuung der Freiwilligen – bei FSJlern beispielsweise 72 Euro im Monat. Die Förderung ist allerdings auf knapp 19.000 Plätze begrenzt.

Julia Oschlies verdient 468 Euro im Monat. Ihr Trägerverband, die Malteser, haben sich auf einen einheitlichen Satz für Freiwillige in ganz Deutschland geeinigt. Für eine FSJlerin ist das ein Spitzenverdienst. Andere arbeiten für 205 Euro im Monat, in der Regel liegt der Höchstsatz bei 320 Euro. Wer wie viel bekommt, hängt von Bundesland und Sozialverband ab. Aber selbst Julia Oschlies kostet’ kostet den Arbeitgeber nur einen Bruchteil einer festen Arbeitskraft. Auf die Frage, warum sie erstmals zwei FSJler eingestellt habe, antwortet ihre Chefin Hendrikje Morawe: „Den Ausschlag gab, dass hier Personalmangel herrscht.“ Beim Schulprojekt der Berliner Malteser ist Morawe die einzige festangestellte Mitarbeiterin – dazu kommen Ehrenamtliche. „Zwei Personen zusätzlich, die den ganzen Tag da sind, sind eine große Erleichterung im Hinblick auf Aufsicht und Betreuung“, sagt Morawe. FSJler dürfen keine Arbeitsplätze ersetzen. Aber eine zweite feste Mitarbeiterin sei sowieso nicht in Sicht gewesen, sagt Morawe. Sie sieht die FSJ-Stelle ebenso pragmatisch wie Julia Oschlies ihre Bewerbung.

Kaum Hauptschüler

Hartmut Brombach, Sprecher des Bundesarbeitskreises FSJ, findet das in Ordnung. Er unterstützt, dass das FSJ ein Bildungsjahr bleibt, aber er weiß auch: Weder treibt die Einsatzstelle nur Freude an der pädagogischen Betreuung noch den Freiwilligen nur Altruismus. „Das ist eine Verklärung“, sagt Brombach. Wer das FSJ nur in diese Ecke dränge, vertue die Chance, bei Gruppen, die als Freiwillige unterrepräsentiert sind, dafür zu werben, was ihnen ein solches Jahr bringe. Die Hälfte der FSJler sind Abiturienten, nur 12 Prozent Hauptschulabsolventen oder haben keinen Schulabschluss. Viel zu oft würde etwa von Politikern gesagt, die Jugendlichen wollten sich für die Gesellschaft engagieren, sagt Brombach.

Ein Tagungsheim in Wünsdorf, einer Kleinstadt südlich von Berlin. FSJler der Diakonie in Berlin und Brandenburg treffen sich hier für eine Woche zum Seminar. An den Wänden des Tagungsraums im ersten Stock hängen Plakate aus buntem Packpapier, mit Zeitungsausrissen beklebt, mit Filzstift beschrieben. An ihrem ersten Seminartag sollten die FSJler Erwartungen an das Jahr aufschreiben. „Sich für die Gesellschaft engagieren“ steht auf keinem Plakat, einmal kommt „Menschen helfen“ vor. Größer geschrieben ist: „Neue Berufsfelder entdecken“, „selbstständig werden“, „Aufstiegschancen“.

Paula-Marie Behrens fand diese Aufgabe kindisch. „Ich erwarte intellektuelles Niveau, auch in den Methoden“, sagt sie. „Wir sind alle fast erwachsen.“ Paula-Marie Behrens, 19 Jahre, einen Ring durch die Nasenscheidewand und ein Metallstäbchen durch die Augenbraue, kommt aus der linken Jugendarbeit. Sie will Sonderpädagogik studieren und dafür voher praktisch einen sozialen Beruf ausprobieren. „Das passt total gut in den Lebenslauf“, sagt auch sie. Aber dahinter steckt noch mehr.

Behrens wollte eigentlich mit Kindern arbeiten, wie Julia Oschlies. Nun kümmert sie sich in einem Heim in Potsdam um junge Erwachsene mit Schwerstmehrfachbehinderungen. Bis auf Spritzen setzen macht sie dort alles, was eine Pflegerin macht – Füttern, Wickeln. Einige Patienten erbrechen sich aufgrund ihrer Behinderung beim Essen immer wieder, andere haben sauren Kot, der stechend riecht. „Ich habe erst gedacht, ich kann das nicht, aber ich wusste, wenn ich es nicht mache, macht es keiner“, sagt Paula-Marie Behrens. Sie musste immer wieder würgen, hielt kurz den Kopf aus dem Fenster. Wenn sie weinen musste, machte sie einfach weiter und sagte zu den Patienten: Alles okay, es hat nichts mit dir zu tun. Dafür bekommt sie 205 Euro im Monat. „Das ist keine Arbeit, die ich mein ganzes Leben machen will, aber es muss Menschen geben, die sie ein Jahr lang machen“, sagt die 19-Jährige.

Kalkulierte Hilfe

Die Augsburger Sozialwissenschaftlerin Angela Eberhard hat ihre Dissertation über Menschen wie Paula-Marie Behrens und Julia Oschlies geschrieben. Sie befragte 700 FSJlerinnen, die fünf bis fünfzehn Jahre zuvor ihren Freiwilligendienst beendet hatten. Ergebnis: Das soziale Engagement ist nach dem FSJ nicht signifikant höher als davor. „Auch wenn das nicht zu den hehren Zielen passt: Das FSJ ist ein weiterer Schritt in einer sowieso schon engagierten Biografie“, sagt Eberhard. Das bestätige für die Jugendlichen die These vom solidarischen Individualismus – kalkulierte Hilfsbereitschaft statt Helferpathos.

Wer mehr Freiwillige wolle, müsse auch diese Deutung zulassen, sagt Hartmut Brombach vom Bundesarbeitskreis FSJ. Und mehr Freiwillige wollen eigentlich alle. Die Oppositionsparteien überbieten sich gerade bei der Frage, wie viele mehr. „Man müsste sich als ehrgeiziges Ziel setzen, die Zahl aller Freiwilligendienstplätze zu verdoppeln“, sagt Kai Gehring, jugendpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion. „Wir wollen langfristig jedem Schulabgänger, der will, einen Platz anbieten“, sagt Sönke Rix, der das Thema für die SPD-Fraktion besetzt. Momentan bekommen allein die großen Träger 85.000 Bewerbungen für 35.000 FSJ-Plätze. Allerdings bewerben sich auch Jugendliche um mehrere Einsatzstellen.

Mehr Freiwillige bräuchten auch mehr Bundesförderung. „Wir haben es in der großen Koalition versäumt, mehr Geld in die Hand zu nehmen“, sagt Sönke Rix. Gerade wenn außerhalb der Gymnasien mehr geworben werden soll, müsse die Pauschale für die pädagogische Betreuung erhöht werden. Sie deckt schon jetzt laut Arbeitskreis FSJ nur ein Drittel der Kosten. Dass nun über die Mittel aus der Zivildienstverkürzung diskutiert werde, sieht Sönke Rix als Chance für den Freiwilligendienst. „Ich glaube wir könnten auch unter einer schwarz-gelben Regierung zu einer Verbesserung kommen“, sagt er. Klare Zusagen für deutlich mehr Förderung vom Familienministerium gibt es bisher noch nicht. Angekündigt hat Ursula von der Leyen aber schon, dass sie sich dafür einsetzen will, dass es für alle Freiwilligen ein anerkanntes Zeugnis gibt. Für die Bewerbungsmappe.