Polen und das Projekt Europa: Als alle miteinander redeten
Wo ist er hin, der Aufbruch der Reformperiode? Was für eine große Chance das europäische Projekt ist oder war, lässt sich gut an Polen studieren.
Als ich im Januar 1999 zum ersten Mal in ein winterlich dunkles und tief verschneites Krakau kam, um dort (wie sich herausstellen würde) sechs Jahre lang zu leben und zu arbeiten, war die sozialistische Vergangenheit noch überall zu spüren. Sie saß in den verstaubten Vorhängen des Hotels, das bis in seine entferntesten Winkel durchdringend nach ranziger Mayonnaise und billigen Zigaretten roch. Sie war in den grauen, unbewegten Gesichtern der älteren Passanten lebendig. Sie ertönte im infernalischen Kreischen und Funkensprühen der Straßenbahnen, die auf dem Altstadtring um die Ecke bogen.
Und zugleich fiel mir schon bald auf, von wie vielfältigen Lichtblicken die stehengebliebene Fassade Volkspolens bereits durchlöchert war. Ich entdeckte kleine selbst verwaltete Cafés im Souterrain barocker Paläste, deren studentische Besitzer mit bäuerlichen Holzskulpturen, Sperrmüllmöbeln, nagelneuen Espressomaschinen und vegetarischen Gerichten die innenarchitektonischen Traditionen der Zwischenkriegszeit zeitgenössisch wiederbelebten. Beunruhigend junge Menschen – gerade von Soros-Studienaufenthalten in Boston oder London zurückgekehrt – saßen in meinem Büro und entwickelten weitreichende, intelligente und praktikable Ideen. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass sie ein Jahrzehnt später Kuratoren an den berühmtesten amerikanischen oder Schweizer Museen sein würden, hätte ich ungläubig gelacht.
Katholische Philosophen verwickelten mich in Diskussionen über den amerikanischen Pragmatismus. Lyriker, die sich vor 15 Jahren noch mit der Geheimpolizei herumärgern mussten, zeigten mir an langen Abenden ihre Sammlungen kostbarer Blätter von Bruno Schulz. Auf einem Benjamin-Kongress in Barcelona lernte ich Adam Michnik kennen, einen der faszinierendsten und tröstlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin.
Die Krakauer Szene war zu Beginn des Jahrhunderts geprägt von einer eher unwahrscheinlichen historischen Allianz der altoppositionellen polnischen „Inteligencja“ der achtziger Jahre – literarisch orientiert, umgetrieben von politisch-moralischen Fragestellungen, innerlich verwurzelt in den Konstellationen des antikommunistischen Untergrundkampfs – mit sehr zeitgenössischen jungen Internationalisten, die mit ihren Laptops auf Englisch mit Gesinnungsgenossen in aller Welt vor allem über visuelle Kunst korrespondierten und sich in New York so gut auskannten wie in den elektronischen Klubs des Krakauer Stadtteils Kazimierz.
Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass diese Leute – sie dachten, fühlten und sahen aus wie ich – aus grundlegend anderen Richtungen auf vergleichbare Positionen gekommen waren wie das schon etwas angegraute Kind von Marx und Coca-Cola, das es in ihre Stadt verschlagen hatte. Das Freiheitspathos meiner neuen Freunde, Vorbilder und Partner war nicht „links“ inspiriert, sondern liberal-katholisch.
Sie hatten in oppositionellen Krakauer Wohnküchen vergleichbare Sozialisationen durchgemacht wie meine westlichen Freunde in marxistischen Berliner Wohngemeinschaften. Ihr Befreiungsheld war in den achtziger Jahren nicht Daniel Ortega gewesen, sondern Ronald Reagan. Ihr Verhältnis zu ihrer Nationalität war geprägt von dem Gefühl der Zugehörigkeit, der Verantwortung – und durchaus auch von Stolz darauf, Pole und Polin zu sein. Ihre Variante der sexuellen Revolution war nicht von Wilhelm Reich oder Magnus Hirschfeld inspiriert, aber dafür war ihnen eine romantisch chevalereske Auffassung aller Geschlechterverhältnisse in fast zivilreligiöser Inbrunst heilig.
Krakaus Internationalismus
war von 1999 bis 2005 Leiter des Goethe-Instituts in Krakau, derzeit leitet er das Institut in Tiflis. Zuletzt erschien sein Buch „Die Bilder meiner Mutter“ im Fischer-Verlag.
Und jeder und jede sprach mit jedem und jeder. Das Genie Adam Michniks – Besitzer und Herausgeber der Gazeta Wyborcza, die damals eine der besten Tageszeitungen Europas zu werden begann – bestand gerade in seiner Fähigkeit, mit schlechterdings jedem offen, kontrovers und trotzdem solidarisch zu reden. Ein Gespräch zwischen ihm und General Wojciech Jaruzelski, dem Mann, der 1981 einer sowjetischen Invasion durch die Ausrufung des Kriegsrechts zuvorgekommen war und die polnische Nation, wie man heute weiß, gerettet hatte (Michnik ging in der Folge ins Gefängnis), erschien 1993 in Deutschland als Buch.
Als Lech Kaczyński 2010 in Smolensk tödlich verunglückt war, schrieb Michnik über seine letzte Begegnung mit dem Mann, der ideologisch so ziemlich für alles stand, wogegen er zeitlebens gekämpft hatte. Die beiden hatten einen Spaziergang miteinander gemacht und darüber gesprochen, was sie als zwei polnische Patrioten gemeinsam für ihr Land tun könnten.
Der Gast aus dem theorieverliebten und ideologieversessenen Deutschland erlebte es mit dankbarer Verblüffung: Es gab zu Beginn des Jahrhunderts in Polen kaum Sprechverbote und auch keine politisch korrekten Empfindlichkeiten. Die polnischen Reformer hatten zu viel Gemeinsames zu erreichen und zu tun, als dass sie Zeit gehabt hätten, politische Abgrenzungsrituale zu pflegen. Die pragmatistische Überzeugung, dass es nicht darauf ankommt, welche ideologischen Letztbegründungen jemand hat, sondern darauf, was man für ein gemeinsames Ziel tun kann, war das Grundgefühl meiner polnischen Jahre.
Selbstverständlicher Bezugspunkt war der polnische Beitritt zur EU. Nicht deshalb, weil man deren offiziösen Vertretern, geschweige ihren Agenturen in Brüssel irgendwelche positiven Gefühle entgegengebracht hätten. Es war eher so, dass wir das politische Europa und dessen Institutionen als eine Art politischen Schutzschirm betrachteten, der uns erlauben würde, unsere internationalen kulturellen Verbündeten unbehindert nach Krakau einzuladen, ohne Visum zu Ausstellungen in Deutschland und Großbritannien zu fliegen, mit dem Auto über die löchrige Autobahn in einem Nachmittag nach Berlin zu fahren.
Die EU war eher eine Voraussetzung der Internationalität, die uns vorschwebte als deren Ziel, selbstverständlich und ein bisschen langweilig. Der Krakauer Internationalismus jener Jahre war vielleicht überhaupt eher amerikanisch gefärbt, als dass er sich auf Deutschland oder die Europäische Union bezogen hätte. Und die polnische (überhaupt osteuropäische) Moderne hat eine altweltliche, auch altmodische Einfärbung, die in Deutschland, glaube ich, nie wirklich verstanden worden ist.
Der Braindrain war beträchtlich. Die jungen polnischen Internationalisten machten jetzt ihre internationalen Karrieren. Der polnische EU-Beitritt ermöglichte ihnen, im Ausland zu zeigen, was in ihnen steckte. Und zugleich tat sich etwa um dieselbe Zeit ein beunruhigendes Polen hervor, das zumindest ich die ganze Zeit über nicht gekannt und nicht für denkbar gehalten hatte.
Diesen Text finden Sie auch in der taz.am wochenende vom 16./17. Juli, die sich ansonsten eingehend auf mehreren Seiten mit dem schrecklichen Anschlag von Nizza beschäftigt. Außerdem: Früher fiel Thomas de Maizière mit Besonnenheit auf. Heute gilt der Innenminister als Reizfigur. Wie er seinen Wandel rechtfertigt. Und: Dank Hans Wall gibt es sich selbst reinigende City-Toiletten. Ein Gespräch über Geld und die AfD. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Vorerst noch für Einzelerscheinungen gehaltene Vorkommnisse häuften sich. Zum Beispiel eine von militanten Fußballfans rücksichtslos zusammengeschlagene LGBT-Demonstration auf dem Krakauer Marktplatz. Eine Ausstellung, die wegen des Verdachts auf Blasphemie verboten wurde. Irgendwo in Nordpolen wurde eine Künstlerin wegen einer angeblich gotteslästerlichen Arbeit rechtskräftig verurteilt. Und zu einem ersten organisierten, spektakulären und fast erfolgreichen Auftritt jenes anderen Polen kam es, als 2004 der Krakauer Nobelpreisträger Czesław Miłosz starb.
Miłosz, der sein polnischsprachiges Werk – es ist eines der bedeutendsten des letzten Jahrhunderts – zum größten Teil in Amerika schrieb, ist eine Symbolfigur der erwähnten osteuropäischen Farbe der Modernität. Seit 1989 hatte er auch eine Wohnung in Krakau. Während der Sommermonate konnte man ihm und seiner amerikanischen Frau dort begegnen: einer massig imponierenden, altmodisch eleganten Altmännerschönheit mit buschigen Augenbrauen und einer gravitätisch distanzierten Freundlichkeit, offiziell verehrt, wie man als Ausländer unbedingt annehmen musste, von der gesamten Nation.
Man hatte sich getäuscht. Schon in den ersten Tagen nach seinem Tod tauchten überall in der Stadt Infostände, Flugblätter und Plakate auf, die zu einer Unterschriftensammlung gegen seine Bestattung im sogenannten Skałka-Pantheon aufriefen, einer Ehrengruft im Paulinenkloster an der Weichsel, wo die Marmorsarkophage berühmter polnischer Künstler und Nationalhelden zu besichtigen sind. Die Anwürfe gegen den toten Dichter waren haarsträubend. Miłosz sei kein richtiger Pole gewesen, sein Interesse an den verschiedenen apokryphen Traditionen des Katholizismus machten ihn zu einem Ketzer, er habe schwulenfreundliche Petitionen unterzeichnet.
Ich erinnere mich aus diesen Tagen an ein Gespräch mit einer älteren Dame an einem jener Infostände. Ihre kaum verhohlene Verachtung meines Ausländerpolnisch. Ihr abirrender Blick. Ihr grauer Dutt, ihre weiße Rüschenbluse. Ihre offensichtliche Überzeugung, ich als Ausländer, gar als Deutscher, werde nie verstehen können, warum Miłosz’ angebliches Polentum in Wirklichkeit ein Vehikel der Zersetzung der Nation und des wahren Katholizismus gewesen sei. Mein Verdacht, ihre unausgesprochene eigentliche Überzeugung bestehe darin, dass ich persönlich mitsamt meiner EU bald besser aus Polen verschwinden sollte.
Die Zeit, in der jeder mit jedem sprach, ging zu Ende. Ein nationaler Essentialismus und Narzissmus, der von weither aus der polnischen Geschichte kam (in letzter Instanz aus den späten zwanziger und dreißiger Jahren) durchschlug die Gemeinsamkeit der Reformperiode wie das Projektil eines Attentäters. Das schale, wie abgeworfene Gefühl, mit dem wir uns voneinander abwandten.
Europäisches Gemeinwohl
Ein Jahr später verließ ich das Land. In Amerika erlebte ich das Gegenteil jenes polnischen Gemeinsamkeitsmoments: einen hoch ideologisierten Belauerungs- und Belagerungszustand, in dem jeder und jede ungut hellwach aufpasst, welcher Verfehlung gegen welchen politisch korrekten Komment das Gegenüber überführt werden könnte. In Tiflis am Computer studierte ich 2015 die Maßnahmen der neuen polnischen Regierung zur endgültigen politischen Aushebelung der Leute, von denen ich zu Beginn des Jahrhunderts annahm, sie würden Polen in eine gemeinsame europäische Zukunft hinein regieren. Merkel machte monatelang die deutschen Grenzen auf, Ungarn schloss die seinen mit Stacheldraht. Der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer verfehlte die österreichische Präsidentschaft um 30.000 Stimmen, bald wird die Wahl wiederholt. Die Briten verließen die EU.
Befremdet beobachte ich in Talkshows und privaten Gesprächen die Wiederkehr eines Diskussionsstils aus den siebziger Jahren: Jede ist im Besitz der absoluten Wahrheit und der unumstößlichen moralischen Letztbegründung, und keiner macht ein freundliches Gesicht dazu. Es scheint kein Ideal des nationalen oder europäischen Gemeinwohls mehr zu geben, auf das man sich einigen kann. Adam Michnik spricht auf großen Kundgebungen in Warschau, die von einem „Komitee zur Verteidigung der Demokratie“ veranstaltet werden. Aber jene Krakauer Dame in der Rüschenbluse, scheint es, hat längst gewonnen, und zwar europaweit.
Mir bleibt die Erinnerung an die europäische Selbstverständlichkeit und die fast utopisch weiten Perspektiven jener Krakauer Jahre zu Beginn des Jahrhunderts. Und das Gefühl einer großen, zum Weinen verpassten Chance. Ich glaube, wir haben das Europa, das ich zu Beginn des Jahrhunderts in Krakau gesehen habe, für lange Zeit verloren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Neuwahlen
Beunruhigende Aussichten
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam