Im real existierenden Egoismus

Was ist die „große Koalition“? Eine erzwungene Zweckheirat von zwei Großen, die ihre politischen Abneigungen für einen Moment vergessen – zum Wohl der Wählerinnen und Wähler. Denn allen Parolen und jeder besseren Einsicht zum Trotz wollen wir eigentlich nur Sicherheit, Stabilität, Einigkeit – und unsere Ruhe

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Jetzt haben wir sie also. Nur Wichtigmacher und Winkelzügler spekulieren noch, irgendein Schachzug könne das Projekt „große Koalition“ noch zu Fall bringen. Vor der Wahl herrschte bei den so genannten Fachleuten weitgehend Einigkeit darüber, dass es sich dabei um die schlechteste Crew handele, um das auf Grund gelaufene Regierungsboot wieder flottzukriegen. Und das Ergebnis der Sondierungsgespräche zwischen den beiden „Volksparteien“, mithin die Blaupause für die künftige Bundesregierung, löst selbst bei den beteiligten Partnern mehr Unwohlsein als Triumphgefühle aus.

Nun gut, noch ist das Kind nicht geboren. Der Fötus des schwarz-roten Retortenbabys zeigt auf den immer deutlicher werdenden Ultraschallbildern allerdings tatsächlich bislang nur die Umrisse eines schnell aus dem Geist des Pragmatismus gezeugten Wechselbalgs, der – bei allem guten Willen, das toll demokratisch zu finden – eher ein bisschen unkonturiert wirkt. Man wird noch üben müssen, um den Hoffnungen gerecht zu werden, die sich mit der schon vom Wort her Kraft und Stabilität verheißenden „großen Koalition“ verbinden. Denn diese Hoffnungen gibt es – mehr, als es auf den ersten Blick scheint.

Souverän mit schlechter Laune

Zunächst schien es doch nur so, als habe der „Souverän“, wie das Wahlvolk von seinen politischen Vorleuten neuerdings gern genannt wird, schlechte Laune gehabt, als er seine Willensbildung so gestaltete, dass das Zusammengehen von Rot und Schwarz fast alternativlos schien. Aber, bei aller öffentlich gemurmelten Kritik an dem Gerangel, das der eben noch so heftig umworbene Souverän nun ohnmächtig verfolgt: das Ergebnis ist gewollt. Laut Umfragen würden die Wähler sich heute – im Wissen um die Konsequenz – nicht anders entscheiden.

Das Zusammengehen der beiden Großen entspricht mehr als jede andere Konstellation dem Wählerwillen. Bei der Frage nach dem Warum tauchen andere Bedürfnisschichten auf als die von TV-Wahlforschern öffentlich verhandelten Interessenlagen. Hinter der eher wenig emphatischen Zustimmung zu Schwarz-Rot verbirgt sich ein im Kern kindlicher Wunsch: der Wunsch nach Sicherheit, Stabilität, Einigkeit. Was Wunder: In Zeiten der Krise nähern sich die kollektiven Bedürfnislagen stets den basalen infantilen Wünschen an, mit denen wir alle einmal groß geworden sind.

Das Gerede vom „Landesvater“

Das Bedürfnis nach geschützten stationären Zuständen steht dabei im Zentrum, das Vor- und Wunschbild ist die harmonisch funktionierende Familie. Was sonst soll die Rede vom „Landesvater“ besagen? Kleine Ironie des Schicksals insofern, als bei Schwarz-Rot ausgerechnet auch noch eine Frau und ein Mann das Spitzenduo bilden. So gesehen passt selbst die Debatte um die Richtlinienkompetenz ins Bild: Deutschland wird in Zukunft von einem „großen Paar“ geführt werden, das gemeinsam, im elterlichen Konsensus, die Entscheidungen treffen wird.

Tatsächlich sind die Hoffnungen, die sich auf den Staat – zumal den Sozialstaat – richten, im Kern infantile Wünsche. Ist nicht die erste Forderung des Bürgers an den Staat ein Abkömmling des kindlichen Wunschs nach Schutz und Sicherheit? Thomas Hobbes hat, zu Beginn der modernen bürgerlichen Staatstheorie, die Formel, aus der jeder Staat seine grundlegende Legitimation beziehe, geprägt: „Protego, ergo sum“ – „Ich schütze, also bin ich“.

Der Gedanke des Schutzes enthält jedoch viel mehr als die Gewährleistung basaler rechtlicher Sicherheiten im Innern und Sicherung des „Staatsvolks“ nach außen. Die Geschichte der Moderne ist vor allem auch die Geschichte wachsender Ansprüche an jene Instanz, an die der Einzelne seine Willkür und egoistische Selbstbehauptung abtritt. Je entschiedener sich die Demokratie mit dem Gedanken des Wohlfahrtsstaats verband und sich praktisch in ihm verwirklichte, desto luxurierender wurden auch die Errungenschaften, die der Staat den Einzelnen garantieren sollte.

Das klassische Beispiel einer solchen im Grundgesetz festgeschriebenen Garantie ist der berühmte persuit of happiness der US-amerikanischen Verfassung: Den Bürgern das Recht auf Glücksstreben zu garantieren ist genau genommen eine juristische Entgleisung – faktisch jedoch der entscheidende Grund, warum es Demokratien gibt und ihre Anteilnehmer Interesse daran haben, sie zu erhalten.

Am idealen Ende des bürgerlichen Denkens steht die Forderung nach freier Entfaltungsmöglichkeit – gerahmt durch eine Harmonievorstellung: das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der kollektiven Identität, die prototypisch in den Schlachtgesängen der englischen Fußballfans zum Ausdruck kommt: „United we stand und you never walk alone.“ Im schwierigen Gebiet der Kollektivgefühle gilt die fundamentale psychologische Einsicht: Wir werden in Gemeinschaften geboren und müssen in Gesellschaften leben. Alle – nicht nur demokratische – Gesellschaften laborieren an diesem „anthropologischen Bruch“.

Aus der Sicht des Volks entscheidet sich die Qualität (s)einer Regierung nicht zuletzt daran, wie sie das Gefühl vermitteln kann, die Landeskinder seien in guter Hut. Und, überraschenderweise: trotz Individualisierung der Biografien, trotz einer deutlichen Verschlechterung der Lebensperspektiven in ökonomischer Hinsicht und trotz nach wie vor herumposaunter „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“-Ideologien: Längst hat hierzulande ein korporatistischer, ja familiaristischer Zug in der Wahrnehmung und Beurteilung von Politik obsiegt.

Gelächter über Gewerkschaften

Die Zeiten, in denen Klassenkampf und Polarisierung angesagt waren, sind vorbei. Heute werden die Gewerkschaften verlacht, weil sie Partialinteressen vertreten. Und selbst der viel zitierte Sozialneid erscheint eher als ein Epiphänomen angesichts des überragenden Wunschs nach Ruhe im windgeschützten Raum. Die Dauerkrise der Globalisierung hat – unterhalb der allgemeinen Jammerschicht und den selbstverständlich fortexistierenden Egoismen – eine neue Bewusstseinskultur hervorgebracht, in der sich Gemeinschaftswünsche mit Yuppie-Ideologemen auf wunderliche Weise mischen.

Mama Merkels früher Fehler

Erstaunlich deshalb, dass es keine Partei im Wahlkampf gewagt hat, auf das Ticket einer konsequenten „Blut, Schweiß und Tränen“-Propaganda zu setzen. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatte eine restriktive Beschäftigungs- und Sozialpolitik nach keynesianistischem Vorbild so große Chancen wie jetzt – wenn sie nur, das ist der sozialpsychologische Fehler der Hartz-Reformen, mit einer hinlänglich geschickt inszenierten Gemeinschaftsideologie angereichert ist. Wäre die CDU mit einem Programm angetreten, das sich nicht gescheut hätte, die Ankündigung harter ökonomischer Einschnitte mit „Volksgemeinschaft“-Harmonien zu unterlegen, sie wäre die unbestrittene Wahlsiegerin geworden.

Nur: Dafür war Angela Merkel die falsche Frontperson. Die große Koalition als Resultat des gespaltenen Wahlausgangs ist gewissermaßen das pragmatische „Gemeinschaftsprojekt“, das übrig geblieben ist, weil niemand wagte, auf dieser Klaviatur zu spielen.

Was diese große Koalition tragen wird, ist der ungestillte Wunsch nach Stabilität, Harmonie und Konsensus. Mit ihr wird ja nur in eine neue, sozusagen offizielle Form gebracht, was schon lange politische Realität war. Die praktizierte Konsensdemokratie der letzten Jahre hat de facto den künftigen Zustand vorweggenommen.

Es wird interessant sein, wie diese „Legalisierung“ des Round-Table-Regierens vom „Souverän“ aufgenommen werden wird: als befreiender Akt der „nationalen Einigung“ oder als letzte Besiegelung der Vorstellung, dass „die da oben“ machen, was sie wollen.

Momentan steht der Zustandsbeschreibung unter der Parole „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“ das Hoffnungsbild der „Gemeinschaft der Demokraten“ und das Ideal einer Konsenskultur gegenüber, die möglichst wenig Aufregung garantieren und den Bürgern das ermöglichen soll, was sie am meisten wünschen: innere Ruhe.